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1931

Zu zentralistisch, zu etatistisch: Weshalb die Lex Schulthess an der Urne scheiterte

Das erste Gesetz für eine bescheiden ausgestaltete Altersvorsorge, die "Lex Schulthess", scheitert 1931 in der Urnenabstimmung. Als Reaktion schieben die Behörden die staatliche Altersvorsorge vorerst auf die lange Bank.

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Am 6. Dezember 1931 lehnten die Stimmberechtigten mit 60 Prozent Nein-Stimmen die erste AHV-Vorlage ab, welche die 1925 im Grundsatz beschlossene Alters- und Hinterlassenenversicherung realisiert hätte. Für die Neue Zürcher Zeitung bedeutete das Verdikt eine "katastrophale Niederlage" für die Sache des Sozialstaats. Dabei war die abgelehnte Vorlage überaus bescheiden ausgestaltet. Sie bezweckte, wie der Bundesrat formulierte, lediglich eine "Mindestfürsorge". Sie sah ein Versicherungsobligatorium, einheitliche Renten (200 Franken pro Jahr ab dem 66. Altersjahr) sowie Zuschüsse für Bedürftige vor. Die Finanzierung nach dem Umlageverfahren beruhte auf Lohnprozenten sowie auf Abgaben auf Alkohol und Tabak. Organisatorisch war eine dezentrale Struktur mittels kantonaler Versicherungskassen geplant. Die Kantone hätten zudem die Befugnis erhalten, Ergänzungsversicherungen einzurichten, sofern diese nicht mit der privaten Berufsvorsorge kollidierten. Fünf Kantone verfügten 1931 bereits über solche Kassen.

Trotz Kritik seitens der Sozialdemokratischen Partei am sozialpolitischen Minimalismus der Vorlage und der eher abwartenden Haltung in Wirtschaftskreisen hatte die Vorlage die Zustimmung der grossen Parteien und der Verbände gefunden. Den Gegnern der AHV, die gezielt antizentralistische und antimodernistische Reflexe bedienten, kam indes die aufziehende Weltwirtschaftskrise entgegen. Ähnlich wie bei der Ablehnung der Lex Forrer (1900) bildeten sie eine überaus heterogene Koalition: Liberalkonservative aus der Westschweiz und Bauernvertreter zogen gegen den drohenden "Etatismus" und angeblich überhöhte Versichertenbeiträge ins Feld, während die Katholisch-Konservativen in einer Volksversicherung eine Schwächung der Selbstverantwortung und der privaten Wohlfahrt sahen. Kurz vor dem Abstimmungstermin präsentierte das Referendumskomitee eine Fürsorgeinitiative, die eine auf dem Bedürftigkeitsprinzip beruhende Alternative zur AHV ins Spiel brachte. Die Ablehnung der AHV-Vorlage hatte zur Folge, dass die Linderung der Altersarmut, soweit sie nicht durch private oder kantonale Versicherungen abgedeckt wurde, bis nach dem Zweiten Weltkrieg Sache der Gemeindefürsorge blieb.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Leimgruber Matthieu (2008), Solidarity without the state? Business and the shaping of the Swiss welfare state, 1890–2000, Cambridge; Lengwiler Martin (2003), Das Drei-Säulen-Konzept und seine Grenzen: private und berufliche Altersvorsorge in der Schweiz im 20. Jahrhundert, Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 48, 29–47; HLS / DHS / DSS: Altersvorsorge.

(12/2014)