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Private Versicherungen und Hilfsvereine

Privatversicherer waren von Anfang an ein fester Bestandteil der schweizerischen Sozialversicherungssystems. Die Verflechtung zwischen öffentlichen und privaten Akteuren zeigt, dass der Schutz sozialer Risiken auch ein hart umkämpfter Markt ist.

Der Begriff Sozialstaat ist irreführend, da er nicht die vielfältigen Organisationsformen der sozialen Sicherheit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts widerspiegelt. Parallel zum Ausbau der sozialen Sicherheit durch den Bundesstaat müssen hier zwei Privatversicherungstypen erwähnt werden: Erstens die gegenseitigen Hilfskassen, die auf lokaler, beruflicher, gewerkschaftlicher oder konfessioneller Basis organisiert waren. Diese meist nicht gewinnorientierten und heute kaum noch vorhandenen Einrichtungen waren um 1900 vor allem im Bereich der Krankheitsabsicherung aktiv. Zweitens die gewinnorientierten Versicherungsgesellschaften – Aktiengesellschaften oder Genossenschaften – deren Bedeutung im Laufe des 20. Jahrhunderts insbesondere im Bereich der Altersvorsorge und der Krankenversicherung stetig zunahm.

Privatversicherungen, Hilfsvereine und das Aufkommen des Sozialstaates, 1880-1920

Ende des 19. Jahrhunderts stand die Bewegung der Hilfsvereine auf ihrem Höhepunkt. Sie war im Zuge der Industrialisierung entstanden und hatte zur Gründung zahlreicher Arbeiterorganisationen beigetragen, die sich oft um eine Hilfskasse herum gebildet hatten. Diese Selbsthilfevereine richteten sich meist an männliche Arbeiter und deckten mittels Renten eine Reihe von Risiken ab – vom Todesfall bis zur Krankheit–, die zu einem Einkommensverlust des männlichen Familienernährers führen konnten. 1880 waren rund 15 Prozent der Schweizer Bevölkerung Mitglied eines Hilfsvereins. Doch die Zersplitterung der vielen Versicherungsvereine, das fehlende Gleichgewicht zwischen Beitragsleistenden und ausgerichteten Beiträgen sowie mangelhafte versicherungstechnische Grundlagen schwächten die bestehenden Kassen. Ab 1890 gerieten sie zudem durch die ersten Projekte zur Einführung von Sozialversicherungen unter Druck. Die Hilfskassen richteten sich 1900 deshalb gegen die Pläne zur Gründung einer Kranken- und Unfallversicherung und 1912 gegen das vorgesehene Obligatorium im Gesetzesentwurf. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielten die Kranken- und Unfallhilfskassen Bundessubventionen. Ab den 1950er-Jahren nahm ihre Zahl aufgrund vieler Fusionen rasch ab. Mehrere zu Beginn des 21. Jahrhunderts tätige grosse Krankenkassen sind direkte Nachkommen aus dieser Zeit, gehören jedoch zu den Privatversicherungen und haben bis auf wenige Ausnahmen keine auf Gegenseitigkeit beruhende Struktur mehr.

Das Ende des 19. Jahrhunderts war auch durch die Expansion des Versicherungsmarktes und die Entstehung der grossen Versicherungsgesellschaften geprägt, die Unfallrisiken deckten. Dazu gehörten die Zürich oder die Winterthur (seit 2007 AXA Winterthur). Andere richteten sich auf den Lebensversicherungsmarkt aus, wie die Schweizerische Lebensversicherungs- und Rentenanstalt (seit 2004 Swiss Life). Diese mächtigen Akteure verfolgten gegenüber dem Sozialstaat unterschiedliche Strategien. Die Versicherer lieferten einerseits das zur Einrichtung von Sozialversicherungen nötige versicherungstechnische Know-how, andererseits vertraten sie den Wirtschaftsliberalismus und betrachteten den Staat als Konkurrenten auf dem Risikomarkt. Wie die Hilfskassen wehrten sich auch die Unfallversicherungsgesellschaften 1900 erfolgreich gegen den ersten Entwurf einer Sozialversicherung, konnten aber 1912 die Verstaatlichung eines wichtigen Teils des Unfallversicherungsmarktes nicht verhindern. Dieser Marktverlust in der Schweiz wurde durch die wachsende Internationalisierung ihrer Tätigkeit in Europa und Übersee kompensiert. Der Markt der Berufsunfallversicherungen wurde 1984 für private Gesellschaften wieder geöffnet.

Vor 1914 reagierten die Lebensversicherer auf die ersten Diskussionen über die Einführung einer Alters- und Hinterlassenenversicherung mit der Entwicklung von Produkten, die speziell für das Arbeitermilieu bestimmt waren, so beispielsweise die Volksversicherung. Trotz ihrer raschen Ausbreitung vor dem Ersten Weltkrieg deckten diese Verträge nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ab und sahen nur sehr beschränkte Leistungen vor. Zwischen 1880 und 1914 entwickelten die Versicherer somit zwei Antworten auf den sich ausbildenden Sozialstaat: eine Oppositionsstrategie, um den Staat daran zu hindern, in Bereiche einzugreifen, die bislang durch private Akteure besetzt waren, und eine «Strategie der Vorwegnahme», um einer staatlichen Intervention im Sozialbereich zuvorzukommen – und eine solche als überflüssig bezeichnen zu können. Nach 1918 förderte die fehlende Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) das Aufkommen einer dritten Strategie, jener der Komplementarität. In diesem Rahmen betrachteten die Versicherer die Staatsintervention als akzeptabel, solange diese möglichst minimal blieb und die Entwicklung komplementärer Sozialleistungen nicht gefährdete, deren Geschäft in den Händen privater Akteure blieb.

Wettbewerb und Komplementarität zwischen privaten und öffentlichen Versicherungen im 20. Jahrhundert

Zwischen 1918 und 1947 stellte die Aufgabenteilung zwischen der AHV und den bestehenden Pensionskassen ein Paradebeispiel für diese Strategie der Komplementarität dar. Die im Bereich der Gruppenversicherungen – einer Form der Altersvorsorge, bei der die Unternehmen die Führung ihrer Altersvorsorge an eine Lebensversicherung delegierten – aktiven Lebensversicherer verfolgten die ersten Debatten über das AHV-Gesetz (1919) sehr genau, ebenso die Annahme des Verfassungsartikels über die AHV (1925), das Scheitern des ersten AHV-Gesetzesentwurfs (1929–1931) und schliesslich den Abschluss der Arbeit am AHV-Gesetz während des Zweiten Weltkriegs (1944–1947). Die Versicherer waren zwar nicht grundsätzliche Gegner von AHV-Renten, jedoch grosse Befürworter von Minimalrenten, die in gewisser Weise als Trittbrett für die Entwicklung der Gruppenversicherung (Pensionskassen) und der individuellen Altersvorsorge (Lebensversicherung) dienten. Die Versicherer wehrten sich auch gegen die Finanzierung der künftigen AHV über die Reservebildung und gegen die Beteiligung der AHV an den Finanzmärkten (Kapitalisierung), was zu einer direkten Konkurrenz für die Anlagen der Versicherungsgesellschaften geführt hätte.

Die Einführung der AHV war für die Versicherer keine Niederlage. Im Gegenteil, das Minimalprogramm von 1947 beruhte auf einer Aufgabenteilung zwischen dem Staat, der sehr tiefe Renten ausrichtete, und den privaten Kassen, die für die Entwicklung ihres Leistungsangebots grosse Handlungsspielräume behielten. Diese Komplementarität hätte durch die Revisionen der AHV in Frage gestellt werden können, insbesondere durch sukzessive Rentenerhöhungen. Doch in den 1960er-Jahren lancierten weitsichtige Lebensversicherer wie Peter Binswanger von der Winterthur eine langfristige Kampagne zur Sicherung des Marktes für die Altersvorsorge bei gleichzeitigem Expansionsstopp der AHV. Die Kampagne führte zur Einführung des sogenannten «3-Säulen-Prinzips», dessen Annahme 1972 den Weg für das Bundesgesetz über die Berufliche Vorsorge (BVG, 1985) ebnete. Dieses Prinzip war eine Bestätigung der Komplementaritätsstrategie, aber auch Zeichen einer vierten Strategie der Versicherer gegenüber dem Sozialstaat: der Strategie der Eindämmung.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Privatversicherer in jenen Bereichen der Sozialen Sicherheit am stärksten vertreten, die die meisten Finanzmittel mobilisieren, nämlich in der Altersvorsorge und der Krankenversicherung. Die Überschneidung zwischen privaten und sozialen Versicherungen ist typisch für die soziale Sicherheit in der Schweiz und zeigt auch, dass die Versicherung sozialer Risiken ein hart umkämpfter Markt ist.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Leimgruber Matthieu (2006), La politique sociale comme marché. Les assureurs vie et la structuration de la prévoyance vieillesse en Suisse (1890–1972), Studien und Quellen, 31, 109–139, Zürich; Lengwiler Martin (2013), Switzerland : insurance and the need to export, in Borscheid Peter, Viggo-Haueter Niels, World Insurance. The evolution of a global risk network, 143-166, Oxford. DHS / HLS / DSS: Versicherungen ; Hilfsvereine.

(12/2014)