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Soziale Sicherheit auf internationaler Ebene

Die Geschichte des schweizerischen Wohlfahrtsstaates ist eng verflochten mit sozialpolitisch aktiven internationalen Organisationen. Sie übten einen gewichtigen Einfluss auf die Schweiz aus, wenn auch oft in indirekter und informeller Weise.

Als neutraler Staat war die Schweiz ein bevorzugter Standort für internationale Organisationen wie den Völkerbund oder verschiedene Sonderorganisationen der Vereinten Nationen. Dem Völkerbund trat sie kurz nach dessen Gründung 1920 bei. Gegenüber vielen anderen internationalen Organisationen wie dem Europarat, dem Internationalen Währungsfonds oder den Vereinten Nationen zögerten die Behörden jedoch lange mit einem Beitritt. Ausschlaggebend dafür waren teils neutralitätspolitische Vorbehalte, teils ein in bürgerlichen Schichten verbreiteter politischer Isolationismus, bei gleichzeitig starker Integration der Schweiz in die Weltwirtschaft.

Auf sozialpolitischer Ebene pflegte die Schweiz enge Beziehungen zu verschiedenen internationalen und supranationalen Organisationen. Dazu gehören die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO), der Europarat, die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sowie die Europäische Union und ihre Vorläuferorganisationen (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG, Europäische Gemeinschaft EG). Zudem hat die Schweiz im Bereich des Sozialrechts mit insgesamt 44 Staaten zwischenstaatliche Abkommen geschlossen.

Bis in die 1970er-Jahre war die ILO die wichtigste internationale Organisation für Fragen der Sozialen Sicherheit. Sie wurde 1919 als eine Einrichtung des Völkerbunds gegründet und ist seit 1946 eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Sie besteht aus einem ständigen Sekretariat (dem Internationalen Arbeitsamt), einem Verwaltungsrat und einer Vollversammlung, die jährlich zur Internationalen Arbeitskonferenz zusammenkommt. Verwaltungsrat und Vollversammlung sind drittelsparitätisch aus Regierungs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreterinnen und -vertretern zusammengesetzt. Diese korporatistische Organisationsform zielte darauf, die Idee des sozialen Friedens und der Sozialen Sicherheit ausgehend von den Industrieländern weltweit zu verbreiten. Das wichtigste Instrument dafür sind sozial- und arbeitsrechtliche Beschlüsse der ILO. Die Arbeitskonferenz verabschiedet Übereinkommen und Empfehlungen zu Fragen der Sozialen Sicherheit, aber auch allgemeiner zu Menschenrechtsthemen, Fragen der sozialen Ungleichheit und der gesellschaftlichen Entwicklung. Die ILO-Beschlüsse treten nach Ratifikation durch die Mitgliedsländer in Kraft.

Die Schweiz gehörte zu den Gründungsmitgliedern der ILO und beherbergte bereits deren wichtigste Vorläuferorganisation, das 1901 gegründete Internationale Arbeitsamt in Basel. Das Verhältnis der Schweiz zur ILO war allerdings gespalten. Schweizerische Sozialversicherungsvertreter wie der Suva-Direktor Alfred Tzaut oder der AHV-Experte Ernst Kaiser übernahmen leitende Positionen in Expertengremien der ILO oder der ILO-nahen Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS). Zugleich ratifizierte die Schweiz nur zögerlich die Übereinkommen und Empfehlungen der ILO. In den acht Jahrzehnten nach Gründung der ILO (1919-2000) übernahm die Eidgenossenschaft nur rund 30 Prozent der ILO-Beschlüsse (56 von 183). Zählt man nur die Beschlüsse im Bereich der Sozialen Sicherheit und der Arbeitssicherheit, so übernahm die Schweiz 14 von 40 Übereinkommen (d.h. rund ein Drittel zwischen 1919 und 2000). Der Grund für die Vorbehalte der schweizerischen Behörden gegenüber den ILO-Beschlüssen lag in unterschiedlichen Vorstellungen von Sozialer Sicherheit. Die ILO favorisierte nach dem Zweiten Weltkrieg integrierte Modelle der Sozialen Sicherheit mit einem staatlichen Leistungssystem. Die Schweiz hingegen verfügte um 1950 aus staatlicher Sicht nur über eine obligatorische Unfallversicherung (Suva) sowie über eine minimal ausgestattete Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV), ergänzt durch relativ starke private Sicherungssysteme wie die Pensionskassen oder die Krankenkassen. Die staatliche Invalidenversicherung kam erst 1960, eine obligatorische Arbeitslosenversicherung 1977, das Obligatorium in der Krankenversicherung 1996 und die staatliche Mutterschaftsversicherung erst 2005. Vor diesem Hintergrund konnte der Bundesrat deshalb der 1944 von der ILO beschlossenen Philadelphia-Deklaration, die 1946 Teil der revidierten Verfassung der Organisation wurde und deren sozialpolitische Kernforderungen festhielt, ebenfalls nur beschränkt folgen. Die schweizerischen Behörden sahen sich auch ausserstande, das wichtigste ILO-Übereinkommen der Nachkriegszeit, die Konvention für Minimalstandards der Sozialen Sicherheit von 1952, zu unterzeichnen. Die Übereinkunft sah vor, dass unterzeichnende Staaten minimale Standards der Sozialen Sicherheit für drei von neun Sozialversicherungen garantieren sollten. Erst 1977, nach Einführung einer obligatorischen Arbeitslosenversicherung, erfüllte die Schweiz diese Bedingung und konnte der Übereinkunft beitreten.

Das Verhältnis der Schweiz zum Europarat war in sozialstaatlichen Belangen ähnlich widersprüchlich. Zwar gehörte die Schweiz nach ihrem Beitritt 1963 zu den aktiveren Ländern im Europarat, etwa in Menschenrechts- oder demokratiepolitischen Fragen. Die schweizerischen Behörden übernahmen auch einige sozialpolitische Übereinkommen, insbesondere die Europäische Ordnung für Soziale Sicherheit (1964), nicht aber die Europäische Sozialcharta (1961) oder verschiedene weitergehende Übereinkommen zur Alters- oder Krankenversicherung. Ein wichtiges Hindernis für die Übernahme der Sozialcharta war das migrationspolitisch verankerte Saisonnierstatut, das den betroffenen Ausländerinnen und Ausländern wichtige soziale Grundrechte verwehrte.

Der OECD gehörte die Schweiz seit 1961 als Gründungsmitglied an. Das Verhältnis zur OECD war insofern einfacher, als die OECD keine rechtssetzende Organisation ist, sondern eher über internationale Konsultativ- und Beratungsgremien sowie über Forschungs- und Publikationsaktivitäten, insbesondere statistische Vergleichsstudien, auf die Mitgliedsländer Einfluss zu nehmen sucht. Die Beziehungen der schweizerischen Behörden zur Europäischen Union (EU) beziehungsweise ihrer Vorläuferorganisationen waren ebenfalls schon seit den 1960er Jahren eng, auch wenn die Schweiz nicht zu den Mitgliedländern gehörte. Die frühen Abkommen mit der EWG oder der EG betrafen vor allem den grenzüberschreitenden Versicherungsschutz von Migrantinnen und Migranten. Eine breitere sozialrechtliche Angleichung zwischen der Schweiz und der Europäischen Union wurde 1999 mit Unterzeichnung des Freizügigkeitsabkommens im Rahmen der bilateralen Verträge eingeleitet. Die Annäherung der Schweiz an die EU schuf jedoch indirekt neue Ungleichheiten, insbesondere zwischen dem vergleichsweise liberalen Umgang mit Angehörigen von EU-Mitgliedstaaten und einem restriktiveren Umgang mit Migrantinnen und Migranten aus Ländern ausserhalb der EU.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Gees, Thomas (2006), Die Schweiz im Europäisierungsprozess. Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzepte am Beispiel der Arbeitsmigrations-, Agrar- und Wissenschaftspolitik 1947-1974. Zürich; Martin Senti (2000), Die Schweiz in der ILO, Bern; Lengwiler, Martin, Expert networks and the ILO in 20th century accident insurance, in: Kott, Sandrine, Droux, Joëlle (2013), Globalizing social rights. The ILO and beyond, London, S. 32-46; HLS / DHS / DSS: Internationale Arbeitsorganisation (ILO); Europarat; Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD); Europäische Union (EU). 

(12/2014)