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Um 1900

Rationalisierung und Ausbau: Modernisierung der städtischen Fürsorge

Der Umbau der Armenpflege zur modernen Sozialhilfe beginnt um 1900 in den progressiven Städten. Im Zentrum steht die Armut und soziale Not in den Arbeiterquartieren. Die Devise der Reformen lautet: Rationalisierung, Zentralisierung, Bürokratisierung. Die Fürsorge wird dabei zur Domäne von Juristen, Ärzten und der entstehenden Sozialen Arbeit.

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Um die Wende zum 20. Jahrhundert bildete die Armenfürsorge der Gemeinden immer noch das Rückgrat der sozialen Wohlfahrt. In den meisten Kantonen galt nach wie vor das Prinzip der Unterstützung am Heimatort. Dennoch werden um 1900 neue Ansätze zur Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft und zur Bekämpfung der Armut, aber auch zur Kontrolle und Disziplinierung der Unterschichten sichtbar. Unter dem Titel der "communalen Socialpolitik" bauten vor allem die Städte ihre sozialen Leistungen aus. Die Stadt Bern richtete beispielsweise eine Arbeitsvermittlung (1889), eine Armenanstalt (1892) und eine Arbeitslosenkasse (1893) ein. Zudem kurbelte sie den sozialen Wohnungsbau an und subventionierte private Kinderhorte und -krippen (1891/98).

Zur gleichen Zeit plädierte eine neue Generation von Fürsorgeexperten, die sich 1905 in der Schweizerischen Armenpflegerkonferenz zusammenschlossen, für eine Rationalisierung der Fürsorge nach ausländischen Vorbildern. Leitlinien bildeten dabei die Einzelfallhilfe, die Zentralisierung der Organisation, die Bürokratisierung der Verfahren und die Professionalisierung des Personals. Von Frauen selbst gegründete Soziale Schulen eröffneten Frauen aus der Mittelschicht das Berufsfeld der Fürsorgerin.

Paradigmatisch zeigt sich das neue Fürsorgeverständnis in der meist städtischen Jugendfürsorge. Sie wurde mit den Kinderschutzbestimmungen des Zivilgesetzbuches (1912) und der Institutionalisierung von Aus- und Weiterbildungskursen (ab 1908) ausgebaut und verwissenschaftlicht. So professionalisierte die Stadt Zürich die ärztliche Betreuung der Schulkinder (1905) und reorganisierte das Vormundschaftswesen (1908). Dadurch weitete sich die staatliche Fürsorge von den bedürftigen Kindern auf die "verwahrlosten" und kranken Kinder aus. Die Behörden zogen dabei zunehmend wissenschaftliche Experten bei, insbesondere Ärzte und Heilpädagogen.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Matter Sonja (2011), Der Armut auf den Leib rücken: Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900–1960), Zürich; Tabin Jean-Pierre et al. (2010 [2008]), Temps d’assistance. L’assistance publique en Suisse romande de la fin du XIXe siècle à nos jours, Lausanne; Schnegg Brigitte (2007), Armutsbekämpfung durch Sozialreform: Gesellschaftlicher Wandel und sozialpolitische Modernisierung Ende des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Stadt Bern, Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde, 69, 233–258; Ramsauer Nadja (2000), “Verwahrlost”: Kindswegnahmen und die Entstehung der Jugendfürsorge im schweizerischen Sozialstaat, 1900–1945. Zürich.

(12/2014)