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Finanzierungs- und Berechnungsmodelle in der Alters- und Hinterlassenenversicherung

In der Geschichte der Alters- und Hinterlassenenversicherung sind Mathematik und Statistik wichtige Instrumente, um die Entwicklung und Finanzierung der Versicherung zu planen. Schon in den 1920er- und 1930er-Jahren, vor Einführung der AHV, veröffentlichte der Bund verschiedene prognostische Studien. Nach 1948 kamen Berechnungen über die Höhe und Anpassung der AHV-Renten sowie die Verteilung der Beitragspflichten hinzu.

Die Planung der AHV in den 1920er- und 1930er-Jahren

Die Einführung der AHV war schon in den 1920er-Jahren geplant, verzögerte sich aber, unter anderem weil Uneinigkeit über ihre finanzielle Ausgestaltung herrschte. Die Lex Schulthess von 1931 scheiterte nicht zuletzt am umstrittenen Finanzierungsmodell. Drei Themen spielten in den Debatten vor der Volksabstimmung eine prominente Rolle. Als Erstes stellte sich die Frage, ob die AHV nach dem Kapitaldeckungsverfahren oder nach dem Umlageverfahren finanziert werden sollte. Beim Ersteren werden die Beiträge der einzelnen Versicherten angelegt und ab einem bestimmten Alter als Rente wieder ausbezahlt, wie es in der beruflichen Altersvorsorge bis heute der Fall ist. Beim Umlageverfahren werden die Altersrenten laufend aus dem Versicherungskapital ausbezahlt, sodass die aktive, einzahlende Generation die Rentenbezügerinnen und -bezüger finanziert. Eine Vorstudie zur Finanzierung der AHV, die der Versicherungsmathematiker und SUVA-Mitarbeiter Paul Nabholz 1919 erstellte, schlug das Kapitaldeckungsverfahren vor, da dieses „dem Empfinden der beitragspflichtigen Versicherten zweifellos am ehesten entspräche“. Obwohl die Lex Schulthess schliesslich auf das Umlageverfahren setzte, wurde dieses mit einem bedeutenden, hauptsächlich vom Staat alimentierten AHV-Fonds abgesichert. Für die Planung der AHV war es zweitens wichtig zu wissen, wie sich die Bevölkerungszahl und insbesondere das arithmetische Verhältnis zwischen Beitragenden und Beitragsempfängern entwickeln würden. Das Bundesamt für Sozialversicherungen beauftragte deswegen 1928 den Mathematiker Werner Friedli, Professor für Versicherungsmathematik und Leiter des technischen Dienstes der Pensionskasse für die eidgenössischen Beamten, die bevölkerungsstatistischen Grundlagen der AHV zu kalkulieren. Friedli kannte den damaligen demografischen Forschungsstand und war sich bewusst, dass sich die Schweiz in einem „demografischen Wandel“ befand, der eine Überalterung der Gesellschaft mit sich bringen würde. Er berechnete für den Zeitraum von 1920 bis 2000 eine stetige Verringerung des Bevölkerungswachstums. Um die Jahrtausendwende sollte das Wachstum den Nullpunkt, das heisst ein Gleichgewicht zwischen Todesfällen und Abwanderung auf der einen Seite und Geburten und Einwanderung auf der anderen erreichen. Für die AHV bedeutete die prognostizierte Verlangsamung des Bevölkerungswachstums, dass sich das Verhältnis zwischen Beitragenden und Beitragsempfängern zu verschlechtern drohte, was bei der geplanten Finanzierung berücksichtigt werden musste. Seine Prognosen erwiesen sich im Nachhinein als zu pessimistisch. Das Bevölkerungswachstum brach nicht wie prognostiziert ein, sondern stieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischenzeitlich wieder an, betrug um das Jahr 2000 rund ein halbes Prozent und überschritt um 2007 wieder die Ein-Prozent-Marke. Die dritte wichtige Frage betraf die Finanzierungsquellen der AHV. Die von der Lex Schulthess vorgesehenen moderaten Renten beinhalteten einen Grundbetrag, der allen Versicherten zustand, sowie Sozialzuschüsse, die sich nach dem Bedarf der Rentenbezügerinnen und -bezüger richteten. Der Grundbetrag sollte über Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge finanzierten werden. Die Sozialschüsse mussten zu 80 Prozent vom Bund und zu 20 Prozent von den Kantonen finanziert werden. Der Staat sollte dafür auf die Tabak- und Alkoholsteuer zurückgreifen können. Die ebenfalls zur Finanzierung der AHV diskutierte Einführung einer Erbschafts- und Schenkungssteuer sowie eine einmalige Vermögensabgabe kamen nicht zustande. Vor allem diese Finanzierungsvorschläge machten die AHV-Vorlage höchst unpopulär und trugen wesentlich zur Ablehnung in der Volksabstimmung von 1931 bei.

Die Ausgestaltung der AHV

Das AHV-Gesetz von 1947 nahm unter anderem deswegen erfolgreich die Referendumshürde, weil sich Dank der Lohn- und Verdienstersatzordung eine neue Ausgangslage für die Finanzierung ergab. Mit der LVEO war bereits ein beitragsfinanziertes Sozialwerk installiert, das nach dem Kriegsende wieder abgebaut und dessen Modell auf die AHV übertragen wurde. Die zusätzliche finanzielle Belastung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber fiel deshalb relativ gering aus, weil die neuen AHV-Beiträge teilweise über die reduzierten LVEO-Beiträge finanziert wurden. Intensiver diskutiert wurden hingegen die finanziellen Beiträge der öffentlichen Hand. Ein Teil davon war bereits durch die zweckgebundenen Erträge der Alkohol- und Tabaksteuern gedeckt. Die Einführung einer zusätzlichen Weinsteuer scheiterte am Widerstand des Bauernverbandes. Auch eine Bundes-Erbschaftssteuer wurde ins Spiel gebracht, jedoch aufgrund des Widerstands der Kantone, welche die Besteuerung der Vermögen für sich beanspruchten, wieder verworfen. Das Parlament lehnte es zudem ab, einen Teil der Warenumsatzsteuer für die AHV zu verwenden. Aufgrund von Neuberechnungen der Bundesverwaltung, die eine schwächere Belastung der öffentlichen Hand ergaben, und vor allem Dank der Verwendung von LVEO-Überschüssen für die AHV, wurde schliesslich auf eine neue Steuer verzichtet. Dieser Finanzierungsmodus veränderte sich nicht wesentlich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Die ersten acht Revisionen des Gesetzes erhöhten die Bundesbeiträge an die AHV von 4 auf 8.4 Prozent. Als sie 1975 aufgrund einer Schieflage des Bundeshaushalts vorübergehend auf dem damaligen Niveau eingefroren wurden, stellte sich die Frage, welche andere Finanzierungsmittel für die AHV eingesetzt werden konnten.

Die 9. AHV-Revision

Eine weitere richtungsweisende Finanzierungsdebatte fand 1978 anlässlich der 9. AHV-Reform statt. Diese war die erste AHV-Revision, die per Referendum angefochten wurde (direkte Demokratie). Im Unterschied zu den bisherigen beinhaltete die 9. Revision keine klaren Leistungserweiterungen mehr und steht damit für den Übergang von der sozialstaatlichen Ausbau- zur Konsolidierungspolitik. Der strittigste Punkt war die Höhe der Bundesbeiträge, die Ende 1974 noch bei 15 Prozent lagen (in absoluten Zahlen 1310 Mio. SFr.) und 1978 auf 18.75 Prozent hätten erhöht werden sollen. Im Zusammenhang mit den Sofortmassnahmen, die der Bund 1975 zur Stabilisierung seines Haushalts ergriff, wurden sie zwischenzeitlich auf 9 Prozent gesenkt. In den Verhandlungen um die 9. AHV-Revision hatte sich die Stimmung unter den Politikerinnen und Politikern so weit geändert, dass eine weitere Erhöhung der Bundesbeiträge keine Mehrheit mehr fand. Stattdessen sollten diese nur schrittweise von 1978 bis 1982 wieder auf 15 Prozent – das Niveau vor der Erdölkrise – angehoben werden. Zudem stellte sich die Frage, mit welchen Mitteln die Bundesbeiträge an die AHV finanziert werden sollten. Die Anteile der Tabak- und Alkoholsteuern reichten dazu nicht mehr aus. Der Bundesrat schlug dafür die Umwandlung der Warenumsatzsteuer in eine Mehrwertsteuer vor. Dieser Vorschlag war damals jedoch politisch chancenlos. Anlässlich der 9. AHV-Revision entschied die Regierung auch über die zukünftige Anpassung der Renten. Seit Einführung der AHV 1947 waren die Renten mehrmals erhöht worden. Die letzte Erhöhungen fand im Rahmen der 8. AHV-Revision statt, wobei die Renten in zwei Schritten anstiegen: Um 80 Prozent 1973 und um 25 Prozent zwei Jahre später. Im Rahmen der 9. AHV-Revision schlug der Bundesrat Ende 1973 eine Volldynamisierung der AHV-Renten vor, indem sie nicht nur wie bis anhin an die Teuerung, sondern auch an die Lohnentwicklung angepasst würden. Infolge der Rezession von 1974/75 sprachen sich die beiden Kammern schliesslich nur für eine Teildynamisierung aus, bei der sich die Renten nach einem neuen Index richteten, der den Mittelwert zwischen Teuerung und allgemeiner Lohnentwicklung abbildete (Einführung indexierter AHV-Renten).

Finanzierung der AHV in jüngster Zeit

Die Debatten über die Finanzierung der AHV setzten sich auch in jüngerer Zeit fort. Während eine Erhöhung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge nicht zur Diskussion stand, wurden neue Steuern zur Finanzierung der AHV erschlossen. Seit 1999 wird die AHV zusätzlich durch ein Mehrwertsteuer-Prozent finanziert. Das sogenannte Demographie-Prozent stellte die erste steuerliche Finanzierung der AHV dar, die nicht den Bundesbetrag deckte, sondern direkt in die AHV floss. Eine weitere Finanzierungsquelle erhielt die AHV ein Jahr später mit der Spielbanken-Abgabe. Im Jahr 2013 belief sich der Beitrag des Bundes an die AHV auf 20 Prozent, während die restlichen 80 Prozent über die Versicherungsbeiträge finanziert wurden.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Sommer Jürg (1978), Das Ringen um die soziale Sicherheit in der Schweiz. Eine politisch-ökonomische Analyse der Ursprünge, Entwicklungen und Perspektiven sozialer Sicherung im Widerstreit zwischen Gruppeninteressen und volkswirtschaftlicher Tragbarkeit, Diessenhofen ; Ischer Philipp (2006), Ausbau oder Konsolidierung? Der politische Diskurs der 1970er Jahre in der Schweiz im Bereich der AHV, Studien und Quellen, 31, 141–166 ; Lengwiler Martin (2007), Vom Übervölkerungs- zum Überalterungsparadigma. Das Verhältnis zwischen Demographie und Bevölkerungspolitik in historischer Perspektive, in E.Barlösius, D. Schiek (ed.), Demographisierung des Gesellschaftlichen. Analysen und Debatten zur demographischen Zukunft Deutschlands, Wiesbaden, 187-204.

(12/2015)