Unternavigation

1883/1884/1889

Versicherung als neues Modell: Rechtsanspruch statt Bedürftigkeit

Die moderne Sozialversicherung entsteht in den 1880er-Jahren im Deutschen Reich. Sie wird rasch zum Vorbild für andere Länder, einschliesslich der Schweiz. Das neue Versicherungsprinzip heisst: Leistungen werden nicht mehr vom Bedarf abhängig gemacht, sondern automatisch, per Rechtsanspruch garantiert, gewährt.

Weiterlesen Informationen schliessen

Zwischen 1883 und 1889 führte das Deutsche Reich die obligatorische Kranken- und Unfallversicherung sowie die Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiterinnen, Arbeiter und andere Lohnabhängige ein. Das neue Modell der Vorsorge wurde bald auch in der Schweiz diskutiert und propagiert. Es markierte den Übergang von einer auf Fürsorge und punktuelle Schadensbehebung bedachten Sozialpolitik zu einer ausbaufähigen Daseinsvorsorge durch eine Sozialversicherung, die die Risiken des Erwerbslebens abdeckte und auf einem individuellen Rechtsanspruch beruhte. Den Ausschlag für die von Reichskanzler Otto von Bismarck angestossenen Neuerungen gaben mehrere Faktoren: ein interventionistisches Staatsverständnis, Probleme der bestehenden Hilfskassen, ungelöste Fragen bezüglich der Unfallverhütung und die Absicht der Regierung, die Arbeiterschaft in den Obrigkeitsstaat zu integrieren und so die Sozialdemokratie zu schwächen.

Die deutsche Krankenversicherung (1883) umfasste die Deckung der Behandlungskosten, Krankentaggeld, Unterstützung für Wöchnerinnen und Sterbegeld. Die Unfallversicherung (1884) deckte ebenfalls die Heilungskosten und sah zusätzlich Massnahmen zur Unfallverhütung vor. Die Alters- und Invalidenversicherung (1889) gewährte bei Erwerbsunfähigkeit respektive bei Erreichen des 70. Lebensjahrs eine bescheidene Rente. Alle drei Versicherungen waren für Personen mit einem jährlichen Einkommen unter 2.000 Reichsmark obligatorisch. Finanziert wurden sie durch Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie - im Fall der Alters- und Invalidenversicherung - zusätzlich durch staatliche Zuschüsse. Bei der Einführung der Versicherungen griff man auf die bestehenden Krankenkassen zurück oder schuf neue, selbstverwaltete Berufsgenossenschaften (Unfallversicherung) oder Landesversicherungsanstalten (Alters- und Invalidenversicherung).

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Lengwiler Martin (2007b), Transfer mit Grenzen: das ‚Modell Deutschland‘ in der schweizerischen Sozialstaatsgeschichte 1880–1950, in G. Kreis, R. Wecker (ed.), Deutsche und Deutschland aus Schweizer Perspektiven, 47–66, Basel; Stolleis Michael (2003), Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, Stuttgart; Kott Sandrine (1995), L’état social allemand. Représentations et pratiques, Paris.

(12/2014)