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1990-2000

Deregulierung, Ökonomisierung, Umbau: Sozialstaatsdebatten seit den 1990er-Jahren

Die Polarisierung der politischen Kräfte seit den 1990er-Jahren manifestiert sich insbesondere in der Sozialpolitik. Forderungen nach Deregulierung und einem Um- und Abbau der Sozialen Sicherheit werden laut. Allerdings lehnen die Stimmberechtigten riskante Reformprojekte oder substanzielle Leistungseinbussen ab.

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Die 1990er-Jahre bedeuteten für die Soziale Sicherheit eine turbulente Zeit. Das Ende des Kalten Kriegs führte dazu, dass der Grundkonsens zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, der die schweizerische Politik seit dem Zweiten Weltkrieg geprägt hatte, zunehmend brüchig wurde. Die Folge war eine Polarisierung der politischen Kräfte. Verschärft wurden die Gegensätze durch eine Rezession, die zwischen 1991 und 1995 zu Wachstumseinbrüchen und Beschäftigungsrückgängen führte. Davon betroffen war insbesondere das Feld der Sozialen Sicherheit, das seit jeher politisch umkämpft war.

Die Krise hatte einerseits unmittelbare Auswirkungen auf die Sozialwerke; insbesondere die Arbeitslosen- und die Invalidenversicherung schrieben rote Zahlen. Andererseits gerieten die Sozialwerke von Seiten der Wirtschaft und der bürgerlichen Parteien zusehends unter Druck. Deregulierung lautete das zentrale Postulat. Mit dem Argument des demografischen Wandels stellten sie die langfristige Finanzierbarkeit der Sozialwerke in Frage und bekämpften die Erhöhung von Beitragssätzen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft nicht zu gefährden und die Profitmargen beizubehalten. 1994 verlangte etwa der Direktor des Arbeitgeberverbands, Peter Hasler, ein Moratorium beim weiteren Ausbau der Sozialwerke. Führende Exponenten der bürgerlichen Parteien legten nach und forderten eine Reduktion der Soziallasten. Einen Schritt weiter gingen die Wirtschaftsführer um den Präsidenten der Asea Brown Boveri, David de Pury, die 1995 mit einem "Weissbuch" an die Öffentlichkeit traten. Sie verlangten einen Umbau der staatlichen Vorsorge, die nur mehr eine minimale, durch Bedürfnisklauseln beschränkte Existenzsicherung garantieren sollte. Die Debatten drehten sich jedoch nicht nur um die Finanzierbarkeit der Sozialwerke. Rechtskonservative Kreise kritisierten seit den 1990er Jahren wiederholt den angeblich verbreiteten «missbräuchlichen Bezug» von Sozialleistungen.

Die Linke und die Gewerkschaften, aber auch Teile der politischen Mitte erblickten darin eine offene Provokation. Sie warnten vor der zunehmenden Entsolidarisierung und setzten auf die Erschliessung neuer Finanzquellen. 1994 sah sich Bundesrätin Ruth Dreifuss sogar bemüssigt, in einem offenen Brief an die Bevölkerung Spekulationen entgegenzutreten, wonach die AHV kurz vor dem Kollaps stehe. Zu Testfällen für eine deregulierte Sozialpolitik, die auf einen ausgewogenen Interessensausgleich verzichtete, gerieten schliesslich die Volksabstimmungen über das revidierte Arbeitsgesetz (1996) und über den dringlichen Bundesbeschluss zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung (1997). Die Stimmberechtigten waren in diesen Fällen nicht bereit, Leistungseinbussen hinzunehmen: Alle Vorlagen wurden an der Urne verworfen.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Obinger Herbert, Armingeon Klaus et al. (2005), Switzerland. The marriage of direct democracy and federalism, in H. Obinger, S. Leibfried et al. (ed.), Federalism and the welfare state: New World and European experiences, 263–306; Année politique Suisse / Schweizerische Politik, 1990–1999; HLS / DHS / DSS: Marktregulierung. 

(01/2020)