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Gewerkschaften

Im Zentrum des Interesses aller Arbeiterorganisationen, die Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurden, stand der soziale Schutz ihrer Mitglieder. Mit ihren Einrichtungen zur gegenseitigen Unterstützung und den politischen Initiativen wurde die Gewerkschaftsbewegung ein wichtiger Akteur der sozialen Sicherheit in der Schweiz.

Die ersten Gewerkschaften organisierten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Umfeld der Berufsstände des Druckereigewerbes, der Bau-, Holz-, Metall-, Uhren- und Textilindustrie. 1880 waren unter dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) mehrere sozialdemokratisch ausgerichtete Gewerkschaften zusammengeschlossen, während sich die christlichen Gewerkschaften 1907 im Christlichsozialen Gewerkschaftsbund der Schweiz (CSG) zusammenschlossen, welcher der Katholisch-Konservativen Volkspartei nahe stand. 1920 war ein Zehntel der werktätigen Bevölkerung gewerkschaftlich organisiert, die meisten in einer Gewerkschaft des SGB. In der Folge stieg auch die Mitgliederzahl der christlichen Gewerkschaften und der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA). 1960 waren fast ein Viertel der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft. Ende der 1990er-Jahre nahmen die Mitgliederzahlen ab, nur noch rund ein Zehntel der Beschäftigten waren gewerkschaftlich organisiert – zwei Drittel davon in einer Gewerkschaft des SGB, die VSA und die christlichen Gewerkschaften (2003 fusionierten diese beiden Organisationen zu Travail.Suisse) teilten sich den Rest.

Errichtung von Hilfskassen und Förderung des Sozialstaats

Gewerkschaften engagierten sich für die Soziale Sicherheit ihrer Mitglieder, indem sie eigene Sicherungssysteme organisierten. Sie sahen in den ersten staatlichen Sozialversicherungen oft eine Konkurrenz und standen ihnen skeptisch gegenüber. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befürworteten die Gewerkschaften zunehmend den Ausbau staatlicher Einrichtungen der Sozialen Sicherheit. 

Die Gewerkschaften richteten bei ihrer Gründung gegenseitige Hilfskassen zum Schutz ihrer Mitglieder vor Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall und Invalidität, Alter und Tod ein. Die Bedeutung dieser Versicherungs- und Hilfskassen ging weit über den blossen Schutz der Mitglieder hinaus. Sie dienten auch der Rekrutierung und Bindung neuer Mitglieder, und sie ermöglichten die Einflussnahme auf das allgemeine Lohnniveau, indem sie beispielsweise das Lohndumping in Zeiten mit hoher Arbeitslosigkeit zu begrenzen vermochten.

Die geringe Zahl der Mitglieder und das tiefe Lohnniveau der Arbeiter zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten zu einer sehr prekären finanziellen Situation der gewerkschaftlichen Hilfskassen. Während die Arbeiterführer für öffentliche Subventionen eintraten, fürchtete eine Mehrheit der Gewerkschaftskassen, dass eine staatliche Intervention ihre Autonomie in Frage stellen würde, da ihre Aktivitäten kontrolliert und sie verpflichtet würden, «schlechte Risiken» zu übernehmen. Die Gewerkschaften wollten ihre Kassen auch weiterhin als Mittel zur Rekrutierung und Bindung ihrer Mitglieder einsetzen können. Die Tatsache, dass die Hilfskassen von Arbeitern geführt wurden, hatte grossen Einfluss auf die Gewerkschaftspolitik in Belangen der sozialen Sicherheit.

Einerseits verlangten die Gewerkschaftsorganisationen eine staatliche Übernahme der Arbeitsunfälle, andererseits waren insbesondere die christlichen Gewerkschaften gegen eine staatliche Sozialversicherung, die das Bestehen ihrer Unfall- und Krankenkassen gefährdet hätte. Trotz dieser Vorbehalte unterstützten die Gewerkschaften mehrheitlich die Lex Forrer, die allerdings vom Volk 1900 abgelehnt wurde, ebenso die Minimalfassung des 1912 angenommenen Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes. Ende der 1960er-Jahre lancierte der SGB zusammen mit der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz eine Initiative für eine obligatorische Krankenversicherung, die 1974 vom Volk abgelehnt wurde. Schliesslich verschwanden die gewerkschaftlichen Krankenkassen schrittweise zugunsten anderer privater Versicherer.

Die Gewerkschaften forderten und erhielten ab 1924 staatliche Subventionen für ihre Arbeitslosenkassen, was für deren wirtschaftliches Überleben unerlässlich war. Eine Mehrheit der Gewerkschaftsführer, insbesondere jene, die die wichtigsten Arbeitslosenkassen führten, waren bis in die 1970er-Jahre gegen jede Zentralisierung oder Verstaatlichung der Versicherung, was eine bessere Versicherungsdeckung gebracht hätte. Bei der Revision von 1976, als die Arbeitslosenversicherung obligatorisch wurde, verlangten die Gewerkschaftsvertreter bessere Leistungen, sorgten aber auch dafür, dass in der neuen Versicherungsorganisation Platz blieb für ihre Arbeitslosenversicherungen.

In der Altersvorsorge kam es erst spät zur Gründung von Arbeiterversicherungskassen, die jedoch nie mit den von den Arbeitnehmern und den Lebensversicherern geführten Pensionskassen konkurrierten. Die Einführung einer Altersversicherung war auch eine der Forderungen des Landesstreiks von 1918. Die Gewerkschaften unterstützten die 1931 abgelehnte AHV-Vorlage, und mit noch mehr Überzeugung diejenige, die 1947 schliesslich angenommen wurde. Trotz der deutlichen Unterstützung der AHV durch den SGB gab es auch einige Vorbehalte, insbesondere von Seiten der Vertreter der Metall- und Uhrenindustrie: Diese setzten sich (erfolglos) für die Einführung von paritätischen Pensionskassen zur Ergänzung des 1937 unterzeichneten Arbeitsfriedens ein. Tatsächlich waren die Gewerkschaften für gemeinsam paritätisch geführte Pensionskassen, was ihre Zustimmung zur sogenannten 3-Säulen-Doktrin zu Beginn der 1970er-Jahre und ihr Eintreten für Vorsorgeeinrichtungen zur Ergänzung der AHV erklärt. In den 1960er-Jahren beteiligten sich die Gewerkschaften an den Initiativen für eine Verbesserung der AHV-Renten.

Im Kontext der feministischen Bewegung der 1970er-Jahre verliehen engagierte Gewerkschafterinnen den Forderungen nach einer Mutterschaftsversicherung neue Impulse. Die im Umfeld der der Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH) 1977 entstandene feministische Organisation für die Sache der Frau (OFRA) beschloss als erste Handlung die Lancierung einer Volksinitiative für den Mutterschutz, wobei sie bei ihrem Vorhaben Unterstützung von weiteren Organisationen erhielt. Nach einem langen Kampf und grossem Einsatz trugen die Gewerkschafterinnen 2004 entscheidend zur Annahme des Mutterschaftsurlaubs bei.

Seit den 1990er-Jahren wehren sich die Arbeiterorganisationen gegen den Abbau im Bereich der Sozialpolitik. Sie unterstützten verschiedene Reformen, beispielsweise die Annahme einer obligatorischen Krankenversicherung 1994 oder die Einführung einer Mutterschaftsversicherung.

2004 trugen die Gewerkschaften zum Scheitern einer Vorlage zur Erhöhung des Rentenalters für Frauen bei. 2010 lehnten sie die Senkung des Umwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge ab. Mit der Initiative «AHV plus» schlägt der SGB einen offensiveren Kurs ein und strebt damit eine Verbesserung der Rentenleistungen an.

Verbesserung der Anstellungsbedingungen mit Gesamtarbeitsverträgen

Ein weiteres Tätigkeitsfeld der Gewerkschaften besteht darin, individuell abgeschlossene Arbeitsverträge durch kollektive Rahmenverträge zu ergänzen, um zu verhindern, dass den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nachteilige Anstellungsbedingungen aufgezwungen werden. Die sogenannten Gesamtarbeitsverträge werden zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden abgeschlossen und enthalten Bestimmungen zum Lohn und der Arbeitszeit sowie zu den gegenseitigen Rechten und Pflichten der Vertragsparteien. Seit 1941 können Gesamtarbeitsverträge, die zwischen einzelnen Arbeitgebern und ihren Arbeitnehmern bestehen, allgemeinverbindlich erklärt werden. Dazu ist ein Prozess erforderlich, der beide Sozialpartner sowie die Arbeitsbehörden einbezieht. Nach ersten Gesamtarbeitsverträgen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden im 20. Jahrhundert mehrere Gesamtarbeitsverträge in gewerblichen Berufen und seit dem Zweiten Weltkrieg auch in den Exportindustrien abgeschlossen. Auch ehemalige Staatsbetriebe führten nach der Privatisierung Gesamtarbeitsverträge ein. Seit den 1990er-Jahren mussten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Aushandlung von Kollektiverträgen erstmals auch Verschlechterungen der Anstellungsbedingungen in Kauf nehmen.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Association pour l’étude de l’histoire du mouvement ouvrier (AEHMO 2011), Syndicats et politique sociale, Lausanne ; Boillat Valérie et al. (2006), La valeur du travail, Lausanne ; Clivaz Jean (1980), l’Union syndicale et la sécurité sociale, In Union syndicale suisse (éd.), Un siècle d’Union syndicale suisse 1880-1980, 103-126, Fribourg ; De Nicolo Marco (1962), Die Sozialpolitik des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (1880-1960), Winterthur. HLS / DHS / HSS: Gewerkschaften; Christlichnationaler Gewerkschaftsbund der Schweiz CNG.

(12/2017)