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Seit 1990

Quo Vadis? Umstrittener Ausbau des Sozialstaats

Strategiedebatten und politische Blockaden, Sparmassnahmen und moderate Ausbauschritte - die Entwicklung der Sozialen Sicherheit ist seit 1990 zunehmend umstritten. Trotz wachsender Kritik werden wichtige Neuerungen geschaffen: etwa das Obligatorium in der Krankenversicherung, die Mutterschaftsversicherung oder die Harmonisierung der Familienzulagen. Zugleich verbleiben einige Baustellen: die langfristige Sicherung der Altersvorsorge, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Antworten auf die neue Armut.

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Die Entwicklung der Sozialen Sicherheit seit Beginn der 1990er-Jahre ist vielschichtig und konfliktreich. Im Vergleich zu den vorangehenden zwanzig Jahren flachte der Anstieg der Soziallastquote (Quotient aus Sozialversicherungseinnahmen und Bruttoinlandprodukt) merklich ab. Vor dem Hintergrund einer wechselhaften Konjunkturlage entwickelte sich die Sozialpolitik zu einem hart umkämpften Politikfeld, das von instabilen politischen Allianzen bestimmt wurde. Symptomatisch dafür ist die Entwicklung der Zahl der Volksabstimmungen, die sozialpolitische Fragen betrafen. Machten sie zwischen 1971 und 1990 rund 18 Prozent aller Vorlagen aus, so stieg ihr Anteil von 1991 bis 2017 auf 31 Prozent an. Offenbar gelang es den politischen Kräften immer seltener, gegensätzliche Interessen einzubinden und mehrheitsfähige Kompromisse zu finden. 

Insbesondere bei der Krankenversicherung und der Altersvorsorge führten die unterschiedlichen Problemwahrnehmungen der Linken und der Bürgerlichen zunehmend zu einer Pattsituation. Bei der Einführung des Obligatoriums der Krankenversicherung (1994) gelang es noch, eine Mehrheit für einen moderaten Ausbau zu finden. Die steigenden Gesundheitskosten führten seither zu zahlreichen Reformprojekten. Viele davon scheiterten im Parlament oder an der Urne. Als Instrument der Kostendämpfung setzte die Linke auf eine öffentliche Einheitskasse. Die Stimmbevölkerung lehnte jedoch entsprechende Volksinitiativen 2007 und 2014 ab. Ebenfalls an der Urne abgelehnt wurde 2012 die zweite Teilrevision des Krankenversicherungsgesetzes. Ausschlaggebend war die Sorge vor dem Verlust der freien Arztwahl. Erfolgreicher waren kleinere Schritte wie die Einführung des Risikoausgleichs zwischen Krankenkassen sowie die Vereinheitlichung von Arzttarifen. Die steigende Lebenserwartung und die Zunahme an Alterskrankheiten führten im Gesundheitsbereich zu Diskussionen um die Finanzierung des wachsenden Pflegebedarfs.

Nach der letzten umfassenden Reform der Altersvorsorge 1996 (10. AHV-Revision) setzte eine Diskussion um weitergehende Reformen ein. Während bürgerliche Parteien im Namen des demografischen Wandels auf eine Erhöhung des Rentenalters zielten, warnten die Linken vor einer Entsolidarisierung und setzten auf neue Finanzierungsquellen. Vorlagen für eine 11. AHV-Reform scheiterten jedoch 2004 an der Urne und 2010 im Parlament. Deutlich verwarf das Stimmvolk 2010 auch die Senkung der Umwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge. Das Reformpaket „Altersvorsorge 2020“ setzte auf die gleichzeitige Reform von AHV und Beruflicher Vorsorge und scheiterte 2017 ebenfalls in der Abstimmung, Hauptkritikpunkt war die Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahre. Erst 2019 akzeptierte das Stimmvolk im Rahmen einer Steuerreform einen Vorschlag, der zu Mehreinnahmen in der AHV führte. Um die verbleibende Finanzierungslücke zu decken und die strukturellen Probleme der AHV zu lösen, erarbeitete der Bundesrat einen neuen Vorschlag. Die «AHV 21» sah eine Erhöhung des Frauenrentenalters mit Ausgleichsmassnahmen, eine Flexibilisierung des Rentenalters sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vor. Die Reform der Altersvorsorge blieb damit eine der wichtigsten Baustellen der Sozialen Sicherheit, zumal für die Berufliche Vorsorge erst Reformansätze der Sozialpartner vorlagen.

Seit den 1990er Jahren rückte die soziale Absicherung bei einer Mutter- und Vaterschaft zunehmend in den Vordergrund. In diesem Bereich wurden die Sicherungsinstrumente stark ausgebaut. So gelang es, eine Mehrheit für die Mutterschaftsversicherung (2004) und die Harmonisierung der Familienzulagen (2006) zu finden. Ebenfalls investierten Bund und Kantone in Betreuungsstrukturen für Kleinkinder, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erhöhen. Dennoch hinkt die Schweiz in diesem Bereich nach wie vor anderen OECD-Ländern hinterher.

Seit Ende des 20. Jahrhunderts werden zudem grundsätzliche Fragen über die Zukunft der Sozialen Sicherheit diskutiert. Die "neue Armut" wurde zum Thema. Von ihr betroffen sind insbesondere alleinerziehende Frauen, ausgesteuerte Arbeitslose oder Familien mit geringem Einkommen. Die Arbeitslosenversicherung (1995) und die Sozialhilfe setzten als Reaktion auf eine rasche Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Die sogenannte Aktivierungspolitik blieb jedoch umstritten. Kritikerinnen und Kritiker sahen in den Massnahmen einen verdeckten Leistungsabbau sowie eine verstärkte Kontrolle der Leistungsbeziehenden. Diskutiert werden zudem neue Modelle der sozialen Sicherung, um dem Wandel der Arbeitsverhältnisse (Teilzeitarbeit) und neuen familiären Lebensformen (Ein-Eltern- oder Patchwork-Familien) gerecht zu werden. Zu den vorgeschlagenen neuen Instrumenten gehören etwa die allgemeine Erwerbsversicherung oder das bedingungslose Grundeinkommen, dessen Einführung allerdings 2016 an der Urne klar abgelehnt wurde. 

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Studer Brigitte (2012), Ökonomien der sozialen Sicherheit, in P. Halbeisen, M. Müller, B. Veyrasset (ed.), Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert, 923–974, Basel; Obinger Herbert, Armingeon Klaus et al. (2005), Switzerland. The marriage of direct democracy and federalism, in H. Obinger, S. Leibfried et al. (ed.), Federalism and the welfare state: New World and European experiences, 263–306, New York; Année politique Suisse / Schweizerische Politik, 1990–2010.

(01/2020)