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1850-1890

Armenpflege zwischen Unterstützung und Disziplinierung

Im 19. Jahrhundert gilt Armut meist als selbstverschuldet und als Zeichen von Charakterschwäche. Wer arm wird und dennoch als arbeitsfähig gilt, wird stigmatisiert und ausgegrenzt. Strukturelle Armutsursachen bleiben dagegen ausgeblendet.

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Die Unterstützung von Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten konnten, gehörte in der Schweiz traditionell zu den Aufgaben der Gemeinden. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein galt das Prinzip der Unterstützung im Heimatort. Auswärtige Bedürftige konnten deshalb mittels "Armenfuhren" in ihre Heimatgemeinden zurückgeschickt werden. Zugleich behinderte die Unterstütztung im Heimatort die Stellensuche an andern Orten. Die Verrechtlichung des Armenwesens vergrösserte den Einfluss der Kantone auf die Armenhilfe, während die Kompetenzen des Bundes weiterhin marginal blieben. Mit der Einführung des Alkoholzehntels 1887 bekamen die Kantone erstmals Bundesgelder, die für die Bekämpfung des Alkoholismus oder der mangelhaften Erziehung eingesetzt werden konnten, die in den Augen der Zeit wichtige Armutsursachen darstellten.

Besonders von Armut bedroht waren Betagte, Frauen und Kinder. Unter den bürgerlichen Eliten war eine moralisierende Betrachtung von Armut vorherrschend: Nur "würdige" Arme, die infolge von Alter, Jugend, Familienverpflichtungen, Krankheit oder Behinderung nicht erwerbsfähig sein konnten, sollten unterstützt werden. Arbeitsfähigen Armen unterstellte man dagegen mangelnden Arbeitswillen, "Leichtsinn" oder "Verschwendungssucht". Strukturelle Ursachen von Armut wurden dagegen ausgeblendet. Nach 1850 verringerte sich die Massenarmut zwar, doch wirtschaftliche Einbrüche brachten Menschen immer wieder in Not.

Um die Armut zu bekämpfen, bauten die Kantone und Gemeinden die Volksschule aus, passten die Unterstützungspraxis den neuen Notlagen an (Übertragung von Aufgaben an private Vereinigungen, später Wohn- statt Heimatortsprinzip), förderten die Auswanderung, errichteten Armen- und Erziehungsanstalten für mittellose Betagte und Kinder oder ergriffen repressive Massnahmen (Zwangsarbeitsanstalten, Heiratsverbote, Ausschluss vom Wahlrecht), die gesellschaftliche Randgruppen stigmatisierten.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Head Anne-Lise, Schnegg Brigitte (ed.) (1989), Armut in der Schweiz (17.–20. Jh.), Zürich; Lippuner Sabine (2005), Bessern und Verwahren: Die Praxis der administrativen Versorgung von „Liederlichen“ und „Arbeitsscheuen“ in der thurgauischen Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain (19. und frühes 20. Jahrhundert), Frauenfeld; HLS / DHS / DSS: Fürsorge.

(12/2014)