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1890-1947

Ambitiöse Pläne, bescheidene Ergebnisse

Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert diskutieren Behörden und Öffentlichkeit intensiv über die Einführung staatlicher Sozialversicherungen. Die Pläne sind ambitiös, stossen jedoch auf politische Widerstände. Bis zum Zweiten Weltkrieg bleibt das System Sozialer Sicherheit fragmentiert und stark von privaten Akteuren geprägt.

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Zwischen 1890 und 1947 bekam der schweizerische Sozialstaat erstmals Konturen. Die Schaffung einer Verfassungsgrundlage für eine Unfall- und Krankenkasse von 1890 bedeutete einen ersten Schritt in Richtung einer modernen Sozialpolitik. Doch 1900 lehnten die Stimmberechtigten das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz ab. Nur mit grosser Verzögerung gelang es der Politik, Teile der Vorlage zu retten: Elf Jahre später schaffte ein deutlich schlankeres Gesetz, das nur mehr die obligatorische Unfallversicherung vorsah, die Hürde einer weiteren Volksabstimmung. Dieses Muster wiederholte sich mehrmals. Im Rückblick erscheint die Etablierung der Sozialen Sicherheit bis zum Zweiten Weltkrieg als eine lange Experimentierphase, die durch schrittweise, oft minimalistische und dennoch scheiternde Reformversuche geprägt war. Nachhaltige Schübe blieben selbst nach dem Ersten Weltkrieg und dem Landesgeneralstreik (1918) aus, der einen kurzfristigen sozialpolitischen Aktivismus auslöste. Eine hemmende Wirkung hatten nicht zuletzt das direktdemokratische System, die Plebiszite, aber auch die politischen Aushandlungen im Vorfeld der Abstimmungen. So scheiterte auch die erste, überaus moderat ausgestaltete Vorlage für eine Alters- und Hinterlassenenversicherung an einer Volksabstimmung (1931). Erst die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs ermöglichten eine neue Dynamik, die schliesslich in der Verabschiedung der AHV (1947) gipfelte.

Diese Entwicklung führte dazu, dass die Soziale Sicherheit in der Schweiz bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg ein hybrides und heterogenes System blieb. Darin spielten nicht nur der Staat (Bund, Kantone, Gemeinden), sondern auch viele private Akteure eine wichtige Rolle, zum Beispiel kommerzielle Versicherungsgesellschaften, karitative und gemeinnützige Organisationen. Die Hauptlast der öffentlichen Wohlfahrt ruhte weiterhin auf der kommunalen Armenfürsorge, die ab der Jahrhundertwende indes neue Strategien im Umgang mit sozialer Not entwickelte.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Studer Brigitte (2012), Ökonomien der sozialen Sicherheit, in P. Halbeisen, M. Müller, B. Veyrasset (ed.), Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert, 923–974, Basel; Degen Bernard (2006), Entstehung und Entwicklung des schweizerischen Sozialstaates, Studien und Quellen, 31, 17–48.

(12/2014)