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1914-1918

Der Erste Weltkrieg: Fehlende Sicherheitsnetze verschärfen die sozialen Konflikte

Die Schweiz war 1914 nicht auf einen längeren Krieg eingestellt. Mangelnde Vorsorge, Nahrungsmittelknappheit und steigende Preise verschärfen die soziale Not. Vor allem die Städte ergreifen Notmassnahmen, während der Bund zögerlich reagiert. Erst der Landesstreik von 1918 bereitet den Boden für weitergehende soziale Reformen.

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Die Schweiz rechnete wie alle anderen europäischen Nationen beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit einem kurzen Waffengang. Auch sozialpolitische Massnahmen zur Abfederung der grassierenden Inflation blieben lange aus. Es bestand weder eine Lohnausfallsentschädigung für Wehrmänner noch eine Preiskontrolle; erst in den letzten beiden Kriegsjahren rationierten die Behörden Grundnahrungsmittel wie Brot und Milch. Zudem weichte der Bundesrat das Fabrikgesetz auf und verfügte Lohnstopps in öffentlichen Betrieben. Die Folgen waren Reallohneinbussen von 25 bis 30 Prozent, eine prekäre Lebensmittelversorgung und Wohnungsnot. Im Sommer 1918 zählte man offiziell 692.000 notstandsberechtigte Personen, etwa ein Sechstel der Bevölkerung. In den Städten waren die Zahlen noch höher. Im Herbst 1918 wurde die geschwächte Bevölkerung zudem von der Spanischen Grippe getroffen, die fast 25.000 Tote forderte, was 0.6 Prozent der Bevölkerung von 1920 ausmachte.

Notmassnahmen ergriffen vor allem die Kantone und Gemeinden. Sie richteten - oft in Zusammenarbeit mit gemeinnützigen Frauenvereinen - Suppenküchen und Arbeiterstuben ein und verteilten Lebensmittel. Der Bund unterstützte vor allem die Arbeitslosenfürsorge. Weil er damit rechnete, dass die Arbeitslosigkeit zunehmen würde, richtete er 1917 einen Fürsorgefonds ein, der durch die Kriegssteuer alimentiert wurde. Mit Gemeinden und Arbeitgebern unterstützte er Personen, die unverschuldet arbeitslos geworden waren. Zusätzlich subventionierte er die bestehenden, oft gewerkschaftlich getragenen Arbeitslosenkassen und begünstigte private Vorsorgeeinrichtungen steuerlich.

Die sich verschlechternde soziale Lage führte zu einer innenpolitischen Polarisierung, zu Protesten und zu Streiks, die im November 1918 im Landesstreik kulminierten. Das Oltener Aktionskomitee, das die Massnahmen der Arbeiterbewegung koordinierte, stellte primär sozialpolitische Forderungen auf: das Frauenstimmrecht, die 48-Stunden-Woche, die Sicherung der Lebensmittelversorgung sowie die - seit 1912 auf politischer Ebene hängige - Einführung einer Alters- und Invalidenversicherung.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Tabin Jean-Pierre et al. (2010 [2008]), Temps d’assistance. L’assistance publique en Suisse romande de la fin du XIXe siècle à nos jours, Lausanne; HLS / DHS / DSS: Weltkrieg, Erster; Grippe.

(12/2014)