Unternavigation

1942

"Von der Wiege bis zur Bahre": Das Beveridge-Modell einer umfassenden Daseinsvorsorge

Noch während des Zweiten Weltkriegs wird in vielen Ländern über die Grundrisse der Nachkriegsordnung debattiert. Besondere Beachtung erfährt der programmatische "Beveridge-Bericht". Er skizziert das Modell einer staatlichen Vorsorge, die alle Risiken abdeckt. In der Schweiz fällt die Reaktion mehrheitlich kritisch aus.

Weiterlesen Informationen schliessen

Im November 1942 erschien im Vereinigten Königreich der Report to the Parliament on Social Insurance and Allied Services. Kurz nach der Schlacht von El Alamein, dem ersten grossen Sieg der Alliierten über die deutsche Wehrmacht, bildete dieses Dokument eine wichtige Waffe der Propaganda. Bald waren über 600.000 Exemplare abgesetzt. Als Verfasser zeichnete der Ökonom und Sozialstaatsexperte William Henry Beveridge, der im Auftrag der Regierung die sozialen Sicherungssysteme untersucht hatte. Er skizzierte ein Modell der Sozialen Sicherheit, bei dem alle Staatsbürger einen wöchentlichen Beitrag an eine nationale Versicherungseinrichtung leisteten und dafür gegen Daseinsrisiken wie Krankheit, Invalidität oder Arbeitslosigkeit abgesichert wurden. Es sei Aufgabe des Staats, so Beveridge, den Bürgerinnen und Bürgern von der Wiege bis zur Bahre ("from cradle to the grave") beizustehen und die fünf "Hauptübel" (giant evils) zu bekämpfen: Not, Krankheit, Unwissenheit, Verelendung (squalor) und Beschäftigungslosigkeit (idleness). Beveridges Vorschläge zur Ausdehnung und Zusammenfassung der Sozialwerke zu einer umfassenden Volksversicherung, die auf einer nationalen Risikogemeinschaft beruhte, flossen direkt in die Reformprogramme der Labour-Regierung ein, die im Sommer 1945 die Koalitionsregierung Churchills ablöste. Innert kurzer Zeit wurden die Sozialversicherungen ausgebaut und Lücken im Vorsorgesystem geschlossen. 1948 nahm ein nationaler Gesundheitsdienst (National Health Service) seine Tätigkeit auf. Diese Reformen waren eingebettet in umfassende Planungs- und Verstaatlichungsprogramme.

Beveridges Wohlfahrtsmodell stiess auch in der Schweiz auf grosses Interesse. Dabei trat allerdings rasch die Betonung der nationalen Eigenheiten in den Vordergrund. So kam der "Bohren-Bericht" des Bundesamts für Sozialversicherung vom Mai 1943 zum Schluss, dass der Beveridge-Plan, ganz abgesehen vom Finanzbedarf, weder mit der föderalistischen Staatsordnung der Schweiz noch mit der Einbindung nicht-staatlicher Akteure kompatibel sei. Die Diskussion um den Ausbau der Sozialen Sicherheit, die in der Schweiz ebenfalls 1942 einsetzte, blieb denn auch von vornherein auf einzelne Vorsorgezweige begrenzt, insbesondere auf die AHV und den Familienschutz.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Leimgruber Matthieu, Lengwiler Martin (ed.) (2009), Umbruch an der ‚inneren Front‘. Krieg und Sozialpolitik in der Schweiz 1938–1948, Zürich; Monachon Jean-Jacques (2002), Le plan Beveridge et les débats sur la sécurité sociale en Suisse entre 1942 et 1945, in H.-J. Gilomen, S. Guex, B. Studer (ed.), De l’assistance à l’assurance sociale. Ruptures et continuités du Moyen Age au XXe siècle, 321–329, Zürich.

(12/2014)