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Die Industrialisierung prägte die Schweiz zwischen der Bundesstaatsgründung 1848 und der Jahrhundertwende stark. Die Bevölkerung wuchs von 2.4 auf 3.3 Millionen. Immer mehr Frauen und Männer zogen vom Land in die Stadt und arbeiteten als Lohnabhängige in Industrie und Gewerbe. Zürich, Basel und Genf entwickelten sich zu urbanen Wirtschaftszentren. Man brach die Stadtmauern ab und zog neue Aussenquartiere hoch. Die liberale Wirtschaftsordnung und technische Innovationen begünstigten den Bau von Eisenbahnlinien und Fabriken. Zunehmend löste die Maschinen- die Textilindustrie als wirtschaftliches Zugpferd ab. Der Aussenhandel florierte und es etablierte sich ein moderner Dienstleistungssektor (Banken, Versicherungen).
Diese Entwicklungen verliefen nicht reibungslos. Die Wachstumsschübe wurden durch Krisen gebremst. Der Wohlstand und die allgemeinen Lebenschancen blieben höchst ungleich verteilt. Breite Bevölkerungsschichten blieben von Armut bedroht. Angesichts der wachsenden Mobilität und der Entstehung neuer Erwerbsformen wie der Fabrikarbeit konnten die Familien und die Dorfgemeinschaften die Folgen von Not und Armut immer weniger auffangen. Gleichzeitig hielt der frühliberale Staat die öffentliche Armenfürsorge klein und überliess viele Versorgungsaufgaben privaten Armenvereinen, genossen- und gewerkschaftlichen Hilfskassen und den Kirchen.
Die Öffentlichkeit verhandelte das Problem der Armut zunächst unter dem Stichwort des "Pauperismus". Um 1850 kam der Begriff der "sozialen Frage" auf, der stärker auf die Lage der wachsenden Arbeiterschaft zugeschnitten war und der Entstehung eines reformistischen, das heisst nicht revolutionären Flügels der Arbeiterklasse Rechnung trug. Eine wichtige Rolle in dieser Diskussion spielten zunächst die gemeinnützigen Gesellschaften, die das Ethos der Selbsthilfe propagierten und Armut als eine Folge mangelnder Moral betrachteten. Mit der Wirtschaftskrise der 1870er-Jahre und der Erosion des liberalen Gesellschaftsmodells erhielt die Idee einer staatlichen "Socialreform" auch in der bürgerlichen Elite Auftrieb. Die Vorstellung, dass der Staat als "Repräsentant der Gesamtinteressen" zugunsten sozial benachteiligter Gruppen und gestützt auf Experten in das Wirtschaftsleben eingreifen müsse, setzte sich weitgehend durch. Wie dies geschehen sollte und in welchem Ausmass, blieb aber weiterhin Gegenstand von Auseinandersetzungen.
Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Degen Bernard (2006), Entstehung und Entwicklung des schweizerischen Sozialstaates, Studien und Quellen, 31, 17–48; Studer Brigitte (1998a), Soziale Sicherheit für alle? Das Projekt Sozialstaat 1848–1998, in B. Studer (ed.), Etappen des Bundesstaates. Staats- und Nationsbildung in der Schweiz, 159–186, Zürich; HLS / DHS / DSS: Soziale Frage.
(12/2016)