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In den 1990er-Jahren begann das Schlagwort der Aktivierung die Debatten über die Soziale Sicherheit zu prägen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bezeichnen die Aktivierung, inzwischen sogar als neues sozialpolitisches Paradigma. Die Idee der Aktivierung überträgt die Verantwortung für die (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt den Personen, die sozialstaatliche Leistungen in Anspruch nehmen. Die sozialen Sicherungssysteme sollen ihre Anstrengungen, aus eigener Kraft Arbeit zu finden, lediglich unterstützen und fördern. Die Selbst-Aktivierung bildet somit die Bedingung für staatliche Unterstützung. Dadurch liessen sich, so die Befürworter einer aktivierenden Sozialpolitik, Kosten sparen und die Effizienz der Wohlfahrtseinrichtungen optimieren. Kritikerinnen werfen dem Aktivierungsparadigma hingegen vor, blind gegenüber strukturellen Ursachen individueller Notlagen zu sein. Zudem diene die Rede von der Eigenverantwortung lediglich als Vorwand, um sozialstaatliche Leistungen abzubauen.
Zu Beginn der 1990er-Jahre stieg die Arbeitslosenquote in der Schweiz deutlich an. In diesem Umfeld bekam der Aktivierungsgedanke neue Bedeutung. Das revidierte Arbeitslosenversicherungsgesetz von 1995 erweiterte die arbeitsmarktlichen Massnahmen wie Kurse, Motivationsseminare oder Beschäftigungsprogramme. Die neu eingerichteten Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen sollten die Bemühungen der Versicherten unterstützen, eine neue Stelle zu finden. Gleichzeitig wurde die Zahl der Taggelder reduziert. Massnahmen zur beruflichen Eingliederung erhielten ebenfalls in der Sozialhilfe Auftrieb, wobei auch hier der Appell an die Eigenverantwortung mit neuen Sanktionsmöglichkeiten verbunden wurde. Bereits auf eine längere Tradition zurückblicken konnten solche Ansätze in der Invalidenversicherung. Um die – wachsende – Zahl der Neurenten und die Defizite des Sozialwerks zu verringern, stärkte die 5. IV-Revision (2006) das (altbekannte) Prinzip «Eingliederung vor Rente» zusätzlich. Massnahmen der Früherfassung und Frühintervention wie Case Management oder Coaching sowie spezifische Unterstützungsangebote sollten Menschen mit Behinderungen in die Lage versetzen, ihre Stelle zu behalten oder eine neue zu finden und ohne Rente zu leben.
Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Nadai Eva, Canonica Alan, Arbeitsmarktintegration als neu entstehendes Berufsfeld: Zur Formierung von professionellen Zuständigkeiten, Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 38, 23–37; Schallberger Peter, Wyer Bettina (2010), Praxis der Aktivierung. Eine Untersuchung von Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung, Konstanz; Magnin Chantal (2005), Beratung und Kontrolle : Widersprüche in der staatlichen Bearbeitung von Arbeitslosigkeit, Zürich; Année politique Suisse / Schweizerische Politik, 1995–2006; HLS / DHS / DSS: Invalidenversicherung IV; Arbeitslosenversicherung ALV.
(01/2020)