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1850-1890

Bescheidene Leistungen, beschränkte Reichweite: Vorsorgemodell der Hilfskassen

Um 1890 zählt die Schweiz über Tausend Hilfskassen. Gegen eine Prämie bieten sie ihren Mitgliedern eine bescheidene Absicherung gegen die Folgen von Unfall und Krankheit. Trotz ihrer geringen Leistungen und der lokal beschränkten Reichweite bilden sie einen wichtigen Vorläufer der modernen Sozialversicherungen.

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Die Hilfskassen waren ein Bindeglied zwischen traditionellen - beispielsweise zünftischen - Formen der Vorsorge und dem modernen Typus der Sozialversicherungen. Die ersten Kassen, die als Vereine organisiert waren, entstanden bereits Ende des 18. Jahrhunderts. Bis in die 1870er-Jahre verbreiteten sie sich vor allem in den industrialisierten Regionen und den Städten. 1888 zählte die Schweiz 1.085 Hilfskassen mit 209.920 Mitgliedern. In Industrieregionen waren bis zu 25 Prozent der Erwerbstätigen Mitglied einer Kasse. Einige Kassen standen allen Interessierten offen, die meisten wurden aber von Berufsverbänden, Arbeitgebern oder Gewerkschaften getragen.

Die Hilfskassen waren - anders als die Armenfürsorge - auf Erwerbstätige, vor allem auf die wachsende Industriearbeiterschaft ausgerichtet. Sie beruhten auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und des Risikoausgleichs: Die Mitglieder mussten regelmässig eine Prämie bezahlen und erhielten dafür ein bescheidenes Taggeld, das sie gegen Lohnausfall infolge von Krankheit und Invalidität absicherte. Besondere Sterbekassen übernahmen die Kosten für das Begräbnis der Versicherten. Ab den 1880er-Jahren boten einige Kassen auch Alters-, Witwen- oder Waisenrenten an und traten damit in Konkurrenz zu kommerziellen Versicherern wie der 1857 gegründeten Schweizerischen Rentenanstalt (Swisslife).

Seit den 1860er-Jahren kritisierten Versicherungsmathematiker wie Herrmann Kinkelin oder Johann Jakob Kummer die Organisation und die Finanzierungsmodelle der Hilfskassen, weil sie zu wenig Kapitalreserven besässen und ihren Verpflichtungen langfristig nicht mehr nachkommen könnten. Im Gegenzug sträubten sich die Hilfskassen gegen Kontrollen und lehnten - vor allem in der Romandie - eine staatliche Kranken- und Unfallversicherung ab. In der Tat verschärfte die Einführung der Unfallversicherung (1918) die staatliche Regulierung und die Konkurrenz. Die Zahl der Kassen nahm nach dem Ersten Weltkrieg ab. Einige entwickelten sich zu kommerziellen Versicherern.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Lengwiler Martin (2006), Risikopolitik im Sozialstaat: Die schweizerische Unfallversicherung (1870–1970), Köln; Muheim David (2000), Mutualisme et assurance maladie (1893–1912). Une adaptation ambigue, Traverse, 2, 79–93; HLS / DHS / DSS: Hilfsvereine; Pensionskassen; Arbeitslosenversicherung ALV.

(12/2014)