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1975-1979

Soziale Sicherheit im Zeichen der Wachstumskrise

Mit der Rezession von 1974/75 geht eine fast dreissigjährige Phase des Wirtschaftsbooms zu Ende. Als Folge breitet sich ein allgemeines Krisenbewusstsein aus. Als Massnahme zur Krisenbekämpfung wird 1976 eine gesamtschweizerisch obligatorische Arbeitslosenversicherung eingeführt. Zugleich beginnen Debatten über Sparmassnahmen bei den Sozialversicherungen.

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1974/75 schlitterte die Schweiz in eine zweijährige Rezession, die sozialpolitische Interventionen nötig machte, aber auch den weiteren Ausbau der Sozialen Sicherheit grundsätzlich in Frage stellte. Am Anfang der Rezession Mitte der 1970er-Jahre standen der Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods (März 1973) und die Erdölkrise (Herbst 1973). Bis 1977 ging das Bruttosozialprodukt um fünf bis sieben Prozent zurück. Die Folgen waren Einkommenseinbussen und zunehmend unsichere Arbeitsverhältnisse. Die geringe Verbreitung der Arbeitslosenversicherung und die Rückwanderung ausländischer Arbeitskräfte erlaubten es jedoch, die offiziellen Arbeitslosenzahlen trotz Arbeitsplatzverlusten tief zu halten. Die Verteilungs- und Arbeitskämpfe verschärften sich. Auf der einen Seite verlangten linke Parteien und Gewerkschaften eine antizyklische Konjunkturpolitik. Auf der bürgerlichen Seite erhielten Forderungen nach einer "Gesundschrumpfung" der Wirtschaft, nach Steuersenkungen und Deregulierung Auftrieb.

Das Ende der Boomjahre wirkte sich auch auf die Soziale Sicherheit aus. Bei der Neuordnung der Arbeitslosenversicherung von 1976 handelte es sich um eine Massnahme, die unmittelbar durch den Beschäftigungseinbruch nötig wurde. Bei der IV stiegen die Kosten, während die angespannte Situation auf dem Arbeitsmarkt gleichzeitig die berufliche Eingliederung von Menschen mit Behinderungen erschwerte. 1976 setzte das Eidgenössische Departement des Innern eine Arbeitsgruppe für die Überprüfung der Organisation der IV ein, die zwar Vorschläge für administrative Verbesserungen machte, jedoch keine Lösung für den langfristigen Kostenanstieg fand. Deutlich zeigte sich die veränderte Ausgangslage auch bei der AHV. War die 8. AHV-Revision (1972) noch ganz im Zeichen des Ausbaus des Sozialwerks gestanden, wies das Parlament 1974 eine automatische Anpassung der Renten an die Preis- und Lohnentwicklung - und damit erstmals überhaupt eine AHV-Vorlage - an den Bundesrat zurück. Sie sollte erst 1979 eingeführt werden. Stattdessen beschloss es verschiedene Spar- und Sofortmassnahmen, die den Bundeshaushalt kurzfristig entlasten sollten. Dabei rückten Fragen nach der grundsätzlichen Tragbarkeit der Sozialen Sicherheit und der langfristigen Konsolidierung der Sozialwerke ins Zentrum der politischen Debatte.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Tabin Jean-Pierre, Togni Carola (2013), L’assurance chômage en Suisse. Une socio-histoire (1924-1982), Lausanne; Müller Margrit, Woitek Ulrich (2012), Wohlstand, Wachstum und Konjunktur, in P. Halbeisen, M. Müller, B. Veyrasset (ed.), Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert, 91–222, Basel; Ischer Philipp (2006), Ausbau oder Konsolidierung? Der politische Diskurs der 1970er Jahre in der Schweiz im Bereich der AHV, Studien und Quellen, 31, 141–166.

(12/2014)