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1959

Invalidität: Versicherung und Eingliederung statt Sozialhilfe

Ende der 1950er-Jahre ist die Zeit reif für die Einführung der Invalidenversicherung. Obwohl bescheiden ausgestattet, schliesst sie eine wichtige Lücke im System der Sozialen Sicherheit. Und verschreibt sich einem innovativen Grundsatz: "Eingliederung vor Rente".

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Im Juni 1959 verabschiedete das Parlament das Invalidenversicherungsgesetz (IVG). Bis dahin war nur ein Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die Unfallversicherung, Pensionskassen oder kantonale Versicherungen gegen die Folgen von Invalidität versichert. 1925 war die Einrichtung einer Invalidenversicherung zu Gunsten der (vermeintlich) raschen Realisierung der AHV aufgeschoben worden. Der Bund richtete in der Folge nur bescheidene Beiträge an Einrichtungen für Behinderte und Hilfsorganisationen wie die Pro Infirmis aus. Viele Menschen mit Behinderungen waren deshalb auf Sozialhilfe oder private Unterstützung angewiesen. Die Invalidenversicherung kam zu Beginn der 1950er-Jahre wieder auf die politische Agenda. Auch zahlreiche Vorstösse im Parlament und zwei Volksinitiativen der Partei der Arbeit und der Sozialdemokratischen Partei verlangten ihre Einführung. 1955 setzte der Bundesrat eine Expertenkommission ein, im Herbst 1958 veröffentlichte er einen Gesetzesentwurf. Die Verabschiedung im Parlament erfolgte ebenfalls speditiv, so dass das IVG ohne Referendum am 1. Januar 1960 in Kraft treten konnte.

Die Ausgestaltung der IV war weitgehend durch die AHV vorgespurt. Beitrags-, Renten- und Finanzierungssystem wurden übernommen. Die ersten IV-Renten waren somit keineswegs existenzsichernd. Von Beginn an stellte das IVG das Prinzip "Eingliederung vor Rente" ins Zentrum: Es sah neben Geldleistungen medizinische und berufliche Massnahmen, wie Berufsberatung oder Stellenvermittlung, ferner Massnahmen für die Sonderschulung sowie die Abgabe von Hilfsmitteln wie Rollstühle oder Hörhilfen vor. Im Gegensatz zur britischen und deutschen Gesetzgebung verzichtete das IVG darauf, den Unternehmen Quoten für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen vorzuschreiben; der anhaltende Arbeitskräftemangel würde, so die verbreitete Erwartung Ende der 1950er-Jahre, genügend Anreize schaffen.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Germann Urs (2008), Eingliederung vor Rente. Behindertenpolitische Weichenstellungen und die Einführung der schweizerischen Invalidenversicherung, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 58, 178–197; Lengwiler Martin (2007a), Im Schatten der Arbeitslosen- und Altersversicherung. Systeme der staatlichen Invaliditätsversicherung nach 1945 im europaïschen Vergleich, Archiv für Sozialgeschichte, 47, 325–348.

(12/2014)