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Ludwig Forrer

Ludwig Forrer (1845-1921) gehörte um 1900 erst als freisinniger Nationalrat, später als Bundesrat zu den Hauptpromotoren der Kranken- und Unfallversicherung.

Forrer wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Er studierte Rechtswissenschaft an der Universität Zürich, war vorübergehend Polizeioffizier und Staatsanwalt. 1873 eröffnete er ein Advokaturbüro in Winterthur. Als Anwalt verteidigte er 1891 erfolgreich die liberalen Tessiner Revolutionäre. Forrer schloss sich 1867 der demokratischen Bewegung an, die auf dem linken Flügel des Freisinns politisierte. Drei Jahre später wurde er Zürcher Kantonsrat. 1881 bis 1900 sass er als Mitglied der radikal-demokratischen Mehrheit im Nationalrat und war 1894 an der Gründung der Freisinnig-demokratischen Partei der Schweiz beteiligt. Als Angehöriger der «Winterthurer Schule» trat Forrer für die Erweiterung der demokratischen Volksrechte ein und befürwortete staatliche Eingriffe zur Lösung der «sozialen Frage». 1887 gab er zudem den Anstoss für die Vereinheitlichung von Zivil- und Strafrecht. Nach dem Scheitern der ersten Vorlage für die Kranken- und Unfallversicherung trat Forrer 1900 als Nationalrat zurück und übernahm die Leitung des Zentralamts für internationalen Eisenbahntransport. 1902 erfolgte die Wahl in den Bundesrat, dem Forrer bis 1917 angehörte. Längere Zeit leitete er das Post- und Eisenbahndepartement. 1917 trat er als Bundesrat zurück und übernahm erneut die Leitung des Zentralamts. Nur noch selten exponierte er sich politisch. So äusserte er sich zur Vorarlberger Frage und gehörte 1919 der Expertenkommission für eine Alters- und Invalidenversicherung an.

Forrers sozialpolitisches Engagement galt insbesondere der Einführung der Unfallversicherung. Er war überzeugter Befürworter des Versicherungsprinzips, das Lebensrisiken, die den einzelnen existenziell treffen konnten, auf eine grössere Risikogemeinschaft verteilt. Als Anwalt vertrat er regelmässig verunfallte Arbeiter vor Gericht. Dies noch zu Zeiten, als das Fabrikgesetz von 1877 eine Haftpflichtregelung bei Berufsunfällen vorgab. Forrer sah in der Unfallversicherung eine wichtige Weiterentwicklung der Haftpflicht, bei der die verunfallten Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Entschädigung oft vor Gericht erstreiten mussten. Im Gegensatz dazu bot die Versicherung einen Rechtsanspruch auf eine automatische Entschädigung. Durch die Vergesellschaftung der Risiken reduzierte sich das Risiko der Unternehmer, für Arbeitsunfälle selbst aufkommen zu müssen. Forrer erhoffte sich nichts weniger als eine Befriedung der Arbeitsbeziehungen: «Haftpflicht bedeutet den Streit, Versicherung den Frieden.» 1890 betraute der Bundesrat Forrer damit, die Einführung einer staatlichen Unfallversicherung mit einer Denkschrift zu initiieren. Darin orientierte sich Forrer an den Bismarck’schen Sozialversicherungsgesetzen und schlug vor, eine obligatorische Unfallversicherung für alle Arbeiterinnen und Arbeiter im Industriesektor einzuführen. Um Abgrenzungsprobleme zu vermeiden, sollte die Krankenversicherung ebenfalls obligatorisch erklärt werden. Forrer präsidierte anschliessend die Kommissionen von National- und Ständerat, die die Verfassungsgrundlage für die Kranken- und Unfallversicherung gemeinsam vorbereiteten.

Der Verfassungsartikel wurde am 26. Oktober 1890 in einer Volksabstimmung deutlich angenommen. Anschliessend begannen die Behörden, das entsprechende Gesetz auszuarbeiten. Als ausgewiesener Kenner der Materie verfasste Forrer 1893 im Auftrag des Bundesrats einen Entwurf für dieses Kranken- und Unfallversicherungsgesetz (KUVG), der anschliessend von einer Expertenkommission und vom Parlament beraten wurde. Der Entwurf umfasste 400 Artikel; das KUVG war damit die umfangreichste Gesetzesvorlage in der bisherigen Geschichte des Bundesstaats. Strittig blieben insbesondere die Organisation der Krankenversicherung und deren Finanzierung. Vor allem bei der organisatorischen Ausgestaltung musste Forrer, der für eine zentralistische Lösung eintrat, Kompromisse eingehen. Im Parlament wurde die «Lex Forrer», wie das Gesetz bald genannt wurde, noch von den wichtigsten Parteien und Verbänden unterstützt. Bei der Volksabstimmung von 1900 dagegen erlitt die Vorlage dann aber eine klare Niederlage. Die Gegnerschaft bestand aus einer heterogenen Koalition aus Exponenten der Westschweizer Hilfskassenbewegung, der Privatversicherer, der Industrie sowie der Bauern- und Arbeiterschaft. Vor allem die obligatorische Krankenversicherung weckte anti-etatistische Widerstände.

Nach seiner Wahl in den Bundesrat (1902) machte sich Forrer rasch für eine schlankere Neuauflage der Vorlage stark. Obwohl selbst nicht mehr federführend beteiligt, gehörte er der Delegation des Bundesrats an, die die zweite Vorlage vorbereitete. Das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz von 1911 hielt schliesslich an einer obligatorischen und zentral verwalteten Unfallversicherung fest. Auf eine obligatorische Krankenversicherung (für Erwerbstätige) wurde dagegen verzichtet. Hier schlug das neue Gesetz lediglich einen Rahmen vor, der die Subventionierung der privaten Krankenkassen regelte und die Kantone ermächtigte, auf ihren Gebieten ein Obligatorium einzuführen. Nach einem heftigen Abstimmungskampf, in dem sich Forrer erneut persönlich engagierte, nahm das Stimmvolk die Vorlage am 4. Februar 1912 mit einer knappen Mehrheit an.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Labhart Walter (1972), Bundesrat Ludwig Forrer 1845-1921, Winterthur; Altermatt Urs (1991), Die Schweizer Bundesräte. Ein biographisches Lexikon, Zürich.HLS / DHS / DSS:Forrer, Ludwig.

(12/2014)