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Edmund Schulthess

Der freisinnige Politiker Edmund Schulthess (1868–1944) gehört von 1912 bis 1935 dem Bundesrat an. Als Vorsteher des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements ist er 1925 massgeblich an der Schaffung der Verfassungsgrundlage für die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung sowie für den ersten – 1931 an der Urne gescheiterten – Entwurf einer eidgenössischen AHV beteiligt.

Schulthess stammte aus dem Kanton Aargau und wuchs in bäuerlichen Verhältnissen auf. Nach dem Studium der Rechte, der Heirat und der Gründung einer Familie arbeitete er als Wirtschaftsanwalt in Brugg. Er spezialisierte sich auf die Bereiche Finanz- und Arbeitsrecht und nahm Verwaltungsratsmandate in der Elektrizitätswirtschaft und der Bankenbranche wahr. Bald war er eng mit Walter Boveri, dem Gründer der Brown Boveri & Cie. (heute Asea Brown Boveri ABB), und Ernst Laur, dem Direktor des Schweizerischen Bauernverbands, befreundet. Politisch engagierte sich Schulthess bei den Radikalliberalen. 1893 wurde er in den Aargauer Kantonsrat und 1905 mit Unterstützung der Bauernpartei und der Katholisch-Konservativen in den Ständerat gewählt. 1912 schaffte er den Sprung in den Bundesrat, wo er die Leitung des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements übernahm. Bis zu seinem Rücktritt 1935 amtierte Schulthess vier Mal als Bundespräsident.

Als Freisinniger fühlte sich Schulthess vor allem den Interessen der Wirtschaft verpflichtet. Er trat aber auch für Kompromisse gegenüber der Arbeiterschaft ein und anerkannte die Notwendigkeit von Staatsinterventionen zur Stabilisierung von Angebot und Nachfrage. Als langjähriger Vorsteher des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements prägte er die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Kriegs- und Zwischenkriegszeit. Ab 1917 leitete er die Kriegswirtschaftsverwaltung, deren Ausbau bis dahin nur zögerlich erfolgt war. In der Zwischenkriegszeit stiess Schulthess‘ Wirtschaftspolitik allerdings auf Widerstände von linker und rechter Seite. Sowohl eine Revision des Arbeitsgesetzes, die eine Verlängerung der Arbeitszeit vorsah (1924), als auch eine Vorlage für ein Getreidemonopol (1926) scheiterten an der Urne. Erst im zweiten Anlauf gelang es Schulthess 1929, eine Mehrheit für eine neue Getreideordnung zu schaffen. Innerhalb des Bundesrats kam es dabei zu wachsenden Spannungen zwischen Schulthess und seinem katholisch-konservativen Amtskollegen Jean-Marie Musy, der für eine restriktive Finanzpolitik eintrat. Sie erreichten kurz vor der Abstimmung über die AHV-Vorlage von 1931 einen Höhepunkt. Nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1932 trat allerdings auch Schulthess für Lohn- und Preissenkungen sowie für die Abwertung des Schweizerfrankens ein. Die Kriseninitiative der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften, die eine anti-zyklische Wirtschaftspolitik forderte, lehnte er dagegen – in Übereinstimmung mit den bürgerlichen Parteien – ab.

Bereits 1928 zeigte Schulthess Ermüdungserscheinungen; 1935 trat er definitiv von seinem Amt zurück. Nach seinem Rücktritt übernahm er neben mehreren Verwaltungsmandaten das Präsidium der neu gegründeten Eidgenössischen Bankenkommission. Zudem führte er die Regierungsdelegation der Schweiz auf den internationalen Arbeitskonferenzen an. Im Februar 1937 traf Schulthess als Privatperson, doch in Absprache mit dem Bundesrat, den deutschen Reichskanzler Adolf Hitler in Berlin. Von diesem erhielt er die Zusage, dass Deutschland die schweizerische Neutralität bei einem europäischen Konflikt respektieren würde.

Als Wirtschaftsminister war Schulthess für zahlreiche Aspekte der Sozialen Sicherheit zuständig. So waren die kriegswirtschaftlichen Rationierungs-, Kontroll- und Fördermassnahmen, die der Bundesrat gegen Ende des Ersten Weltkriegs unter Schulthess‘ Ägide erliess, stark sozialpolitisch motiviert. Sie sollten die Versorgung der Bevölkerung verbessern und soziale Spannungen entschärfen. Nach dem Krieg und dem Landesstreik erarbeitete das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement eine Vorlage zur Verbesserung der Arbeitsverhältnisse, die allerdings 1920 vom Stimmvolk knapp abgelehnt wurde. Ebenfalls zeichnete es verantwortlich für die Arbeitsbeschaffungsmassnahmen in der Nachkriegskrise und das erste Gesetz über die Arbeitslosenversicherung auf Bundesebene von 1924.

Zu Schulthess‘ Departement gehörte vor allem auch das Bundesamt für Sozialversicherung und damit die Zuständigkeit für die Vorarbeiten für eine Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, die durch den Ersten Weltkrieg ins Stocken geraten waren. Selber vom Solidaritäts- und Versicherungsgedanken und der Notwendigkeit einer raschen politischen Realisierung überzeugt, legte Schulthess 1919 die Botschaft für einen Verfassungsartikel vor. Er nutzte dabei geschickt die sozialpolitische Aufbruchsstimmung, von der unmittelbar nach dem Krieg selbst das bürgerliche Lager erfasst wurde. Nach zähen Verhandlungen, die vor allem die Finanzierung des künftigen Sozialwerks betrafen, stimmten Volk und Stände am 6. Dezember 1925 der Vorlage zu. Der Bund erhielt dadurch die Kompetenz, die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und später auch eine Invalidenversicherung einzuführen. Um die Einzelheiten zu regeln, arbeitete Schulthess‘ Departement anschliessend eine Gesetzesvorlage aus, die 1929 ins Parlament und, nachdem das Referendum ergriffen worden war, 1931 vor das Volk kam.

Die AHV-Vorlage von 1931, die bis heute oft als „Lex Schulthess“ bezeichnet wird, beschränkte sich auf ein Minimum und war als Ergänzung zur beruflichen Vorsorge gedacht. Sie sah ein Versicherungsobligatorium, Pro-Kopf-Prämien, einheitliche Renten sowie Zuschüsse für Bedürftige vor. Umstritten war vor allem das Verhältnis zwischen der staatlichen und privaten Vorsorge. Exponenten der Versicherungswirtschaft plädierten für eine möglichst schlanke staatliche Versicherung, die die Marktchancen der Privatversicherer im Bereich der Zusatzversicherung intakt liess. Hinzu kam der Druck auf die Bundesfinanzen, der von Musy wirkungsvoll kanalisiert wurde. Obwohl Schulthess‘ Vorlage das Parlament weitgehend unbeschadet passierte und von einer grossen Mehrheit unterstützt wurde, ergriff ein Zweckbündnis aus Liberalkonservativen aus der Westschweiz, Bauern und Anhängern der katholischen Soziallehre das Referendum. Letztere präsentierten als Alternative eine Fürsorgeinitiative, die ein Sozialwerk vorsah, das auf dem Bedürftigkeits- und Subsidaritätsprinzip beruhte. Wie dreissig Jahre zuvor die „Lex Forrer“ erlitt das erste AHV-Gesetz am 6. Dezember 1931 Schiffbruch. Zwei Drittel der Stimmenden lehnten die Vorlage ab, die Stimmbeteiligung lag bei knapp 80 Prozent. Ebenfalls abgelehnt wurde die Einführung einer Tabaksteuer zur Finanzierung der AHV. In diesem Fall hatte die Kommunistische Partei der Schweiz, deren Exponenten die AHV-Vorlage als „Bettelsuppe“ titulierten, das Referendum ergriffen. Offensichtlich machte es die Weltwirtschafskrise, die damals langsam die Schweiz erreichte, schwer, die Stimmbürger selbst von bescheidenen Ausbauvorlagen zu überzeugen.

Für Schulthess war das Scheitern der AHV-Vorlage eine deutliche persönliche Schlappe. Die Neue Zürcher Zeitung sprach von einer „katastrophalen Niederlage“ für die Sache des Sozialstaats. Dennoch bestätigte das Parlament Schulthess eine Woche später mit einem Glanzresultat als Bundesrat. Sein Kontrahent Musy musste sich mit einem deutlich schlechteren Resultat zufrieden geben.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Böschenstein Hermann (1966), Bundesrat Edmund Schulthess. Krieg und Krisen, Bern; Altermatt Urs (1991), Die Schweizer Bundesräte. Ein biografisches Lexikon, Zürich. HLS / DHS / DSS: Schulthess, Edmund.

(12/2014)