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Freisinnig-Liberale Partei
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörten die Vertreter des fortschrittlichen Flügels der Freisinnig-Demokratischen Partei (seit 2009 Freisinnig-Liberale Partei) zu den treibenden Kräften bei der Einführung erster sozialpolitischer Massnahmen. Die Partei förderte diejenigen Formen der sozialen Sicherheit, die den privaten Interessen und den Grundsätzen der freien Marktwirtschaft nicht zuwiderliefen.
Gegründet wurde die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) 1894. Sie vereinigte die kantonalen Parteien, die sich die Verteidigung der individuellen Freiheit und die Förderung eines liberalen Wirtschaftssystems bei einer möglichst geringen Staatsintervention auf die Fahne geschrieben hatten. Der Linksfreisinn (im Gegensatz zum Wirtschaftsfreisinn) verteidigte allerdings einen gewissen Staatsinterventionismus im Bereich der sozialen Sicherheit. Die Verteidigung der individuellen Freiheit wurde dabei mit einem Staatsverständnis in Übereinstimmung gebracht, wonach der Staat den Schutz der Individuen und den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten hatte.
Seit ihrem Sieg 1848 und bis zum Ersten Weltkrieg verfügte die FDP im Parlament und im Bundesrat über eine dominierende Stellung. 1919 sah sich die FDP durch das Aufkommen der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, aber auch der Bauern-, Gewerbe und Bürgerpartei (BGB) dazu veranlasst, ihr Bündnis mit der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) zu verstärken und dieser einen zweiten Sitz im Bundesrat zu überlassen. Die Einführung des Proporzsystems setzte der freisinnigen Dominanz in der Bundesversammlung und in mehreren Kantonsregierungen und -parlamenten ein Ende. Die FDP behielt hingegen bis 1959 eine Mehrheit im Bundesrat. Erst dann erlangten die Sozialdemokraten nach dem ersten Bundesratssitz von 1943 auch einen zweiten Sitz in der Landesregierung, so dass den Freisinnigen nur noch zwei Sitze blieben. Das Wählerpotenzial der Partei lag in den 1920er-Jahren bei 28 Prozent, in der Folge schwankte es bis in die 1990er-Jahre zwischen 20 und 24 Prozent der Stimmen und fiel 2007 auf 16 Prozent zurück.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterstützten Parlament und Bundesrat, die beide freisinnig dominiert waren, die Einführung einer Krankenversicherung. Nach der Annahme eines Verfassungsartikels im Jahr 1890, der dem Bund die Kompetenz zur Einführung einer obligatorischen Kranken- und Unfallversicherung einräumte, war es ein Nationalrat des progressiven Flügels der FDP, der spätere Bundesrat Ludwig Forrer, der den Entwurf einer staatlichen obligatorischen Kranken- und Unfallversicherung ausarbeitete. Die Lex Forrer wurde in der Volksabstimmung von 1900 allerdings abgelehnt.
Bei der Arbeitslosenversicherung stimmten die freisinnigen Parlamentarier 1924 für die Förderung des Vorsorgegedankens und damit für das erste entsprechende Bundesgesetz. Sie setzten sich für ein Versicherungsmodell ein, das zur Absicherung der Arbeitsverhältnisse beitrug, wobei die Versicherten allerdings selber einen wesentlichen Teil der Finanzierung zu übernehmen hatten, was für die Arbeitgeber von Vorteil war.
Mit der Annahme des Verfassungsartikels zugunsten einer Altersversicherung reagierte der Bürgerblock auf die sozialdemokratischen Forderungen. Gleichzeitig handelte es sich um einen Versuch, die sozialen Spannungen zu beruhigen, die nach dem Generalstreik von 1918 aufgetreten waren. Die Annahme der Vorlage machte aber auch deutlich, dass ein Teil des Freisinns in diesen Belangen für eine staatliche Intervention war. 1931 wurde ein erstes bescheidenes Projekt für eine Altersversicherung, das der freisinnige Bundesrat Edmund Schulthess vorbereitet hatte, in der Volksabstimmung abgelehnt. 1944 war es wiederum ein Freisinniger, Bundesrat Walther Stampfli, der sich für die neuen Pläne einer Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) einsetzte. Das AHV-Gesetz wurde 1947 angenommen und ermöglichte es den bürgerlichen Parteien, das Prinzip einer minimalen sozialen Sicherheit einzuführen, ohne die Interessen der bestehenden Pensionskassen zu gefährden.
Während der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg (1948–1990) unterstützten die Freisinnigen eine gewisse Erweiterung und Konsolidierung des Sozialstaats, insbesondere durch die Einführung der Invalidenversicherung (1960), der Ergänzungsleistungen (1966) sowie der obligatorischen Arbeitslosenversicherung (1976), wobei allerdings stets niedrigere Leistungen durchgesetzt wurden, als es die Linke forderte. Bei der Arbeitslosenversicherung setzten sich die Freisinnigen für die Beibehaltung der Kontrollen gegenüber den Arbeitslosen ein und kamen damit den Forderungen der Arbeitgeber nach. Die Partei unterstützte auch die sogenannte 3-Säulen-Doktrin und die Erweiterung der beruflichen Vorsorge auf Kosten einer Erweiterung der AHV (1972).
Die Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre (1975-1979) und das Ende des Wirtschaftswachstums verstärkten die kritische Rhetorik aller bürgerlichen Parteien gegenüber den Sozialversicherungen. 1979 präsentierte sich die FDP bei den Nationalratswahlen mit dem Slogan «Mehr Freiheit und Verantwortung – weniger Staat». Die Kritik der Partei gegenüber einem vermeintlich zu kostspieligen Sozialstaat entwickelte sich vor allem ab 1990-Jahren (1995-2010) und war begleitet von Reformen, die die Leistungen reduzierten und gleichzeitig die Kontrolle der Begünstigten verstärkten. Innerhalb der FDP schloss sich der historisch eher für einen Sozialstaat eintretende Flügel diesen Reformen an. So trat zu Beginn des 21. Jahrhunderts der freisinnige Walliser Bundesrat Pascal Couchepin für Revisionen ein, die eine Reduktion der IV-Renten, eine zunehmende Übertragung von Gesundheitskosten auf die Versicherten und eine Erhöhung des Rentenalters zum Ziel hatten. Trotz der Unterstützung eines gesamtschweizerischen Mutterschaftsurlaubs (2004) setzt sich die Freisinnig-Liberale Partei klar für eine Begrenzung der sozialen Sicherheit ein.
Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Meuwly Olivier (2010), Les partis politiques. Acteurs de l’histoire suisse, Lausanne; Couchepin Pascal (2002), Je crois à l’action politique, Entretien avec Jean Romain, Lausanne. HLS / DHS / DSS: Freisinnig-Demokratische Partei (FDP).
(12/2014)