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Die Militärversicherung für Armee-, Zivilschutz- und Zivildienstangehörige

Zwar scheitert um 1900 die Einführung einer Kranken- und Unfallversicherung an der Urne. Gleichwohl verabschiedet das nationale Parlament ein Jahr später den unbestrittenen Teil der Vorlage, die Militärversicherung, separat als erste Sozialversicherung der Schweiz. Im Verlauf der über hundertjährigen Geschichte der Militärversicherung werden die Leistungen kontinuierlich ausgebaut und der Kreis der Versicherten erweitert.

Wer Militärdienst leistet, ist Risiken wie Unfall, Krankheit oder Todesfall ausgesetzt. Bei bleibenden gesundheitlichen Schädigungen kann der Lebensunterhalt oft nur noch teilweise oder gar nicht mehr bestritten werden. Als Folge davon können auch Angehörige von invaliden oder verstorbenen Soldaten bedürftig werden. Mit der militärischen Landesverteidigung ist den Soldaten zudem ein nationalstaatlich symbolträchtiger Auftrag zugedacht. Der Staat fühlte sich in besonderem Masse verantwortlich für das Schicksal seiner Armeeangehörigen. Seit der Frühneuzeit gehörten deshalb Soldaten und Armeeangehörige in den meisten europäischen Ländern zu den sozialpolitisch privilegierten Staatsdienern. Sie gelangten beispielsweise früh in den Genuss von Alterspensionen und Invalidenrenten. Auch die eidgenössischen Orte fühlten sich grundsätzlich für das materielle Wohl ihrer körperlich geschädigten Soldaten verantwortlich, ebenso jene ausländischen Staaten, die Schweizer Söldner beschäftigten. Allfällige Entschädigungen verfolgten in der Regel den Zweck, die unmittelbare Not der Soldaten zu lindern.

Die kurzlebige Helvetische Republik (1798-1803) errichtete eine erste nationale Regelung und verabschiedete ein Fürsorgegesetz für geschädigte Soldaten und Hinterbliebene. Während der Restauration schuf die eidgenössische Tagsatzung eine von den Kantonen finanzierte Kriegskasse, die erstmals im Sonderbundskrieg zum Einsatz kam. Die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 gewährten den Armeeangehörigen ein Recht auf Entschädigungen. Davon ausgehend errichtete der Bund entsprechende Pensionsregime. Die Unterstützungsleistungen blieben jedoch bescheiden und waren nach dem Fürsorgeprinzip an die tatsächliche Bedürftigkeit der Betroffenen gekoppelt. Ab 1874 garantierte der Bund geschädigten Soldaten das Recht auf kostenlose Behandlung und Verpflegung bis zur Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit.

Um das bescheidene Niveau der Fürsorgeleistungen anzuheben und geschädigten Soldaten die Weiterführung ihres gewohnten Lebensstandards zu ermöglichen, schloss der Bund von 1887 bis 1895 auf Initiative von Armeeangehörigen einen Vertrag mit der Zürich-Versicherungsgesellschaft ab, durch den ein Teil der Truppen gegen Unfälle versichert wurde und im Schadensfall auch einen Erwerbsersatz erhielt. Ab 1895 führte der Bund diese Unfallversicherung in eigener Regie weiter, obwohl die rechtlichen Grundlagen dazu fehlten.

Ein Problem der Militärversicherung war zunächst die enge Begrenzung der Versicherungsdauer. Krankheiten, deren Ursache in die vordienstliche Zeit fielen und die sich während des Militärdienstes verschlimmerten, waren nicht versichert. Diese Begrenzung machte in der ursprünglichen Gesetzesvorlage Sinn, weil die Militärversicherung in der Lex Forrer mit einer zivilen Kranken- und Unfallversicherung kombiniert war. Während des Ersten Weltkriegs nahmen sich Bundesrat und Parlament der Versicherungsdauer an. Die folgenden Totalrevisionen (1949, 1992) und Teilrevisionen (1958, 1963) brachten verschiedene Leistungserweiterungen, etwa die Gleichstellung von Armeeangehörigen bei Leistungen im Krankheitsfall. Im Gesetz von 1901 waren die Soldaten je nach Personengruppe und Aktivität entweder gegen Krankheit und Unfälle oder nur gegen Unfälle versichert gewesen. Des Weiteren wurden Genugtuungszahlungen an Verletzte und Angehörige von Getöteten eingeführt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts profitierten nur die Armeeangehörigen von der Militärversicherung. Später wurde sie auch auf weitere Gruppen ausgeweitet: auf Zivilschutzangehörige (1967) und auf Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Sportförderungsprogramms „Jugend+Sport“ (1972-1993), auf Teilnehmer und Teilnehmerinnen von friedensfördernden Einsätzen im Ausland und von Katastrophenhilfekorps (1994) sowie auf Zivildienstleistende (1996).

Im Unterschied zur zivilen Unfallversicherung und der Suva erhielt die Militärversicherung keine autonome Verwaltungsorganisation. Die administrative Verantwortung lag bei der „Dienstabteilung für Militärversicherung“ des Eidgenössischen Militärdepartements. Die Abteilung wurde 1979 zum „Bundesamt für Militärversicherung“ aufgewertet. Mit der Annahme des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes von 1912 stellte sich die Frage, ob das militärische und das zivile Versicherungsregime miteinander verschmolzen werden sollten, wie es bereits die Lex Forrer vorgesehen hatte. Da die Entschädigungssysteme zu unterschiedlich waren, wurde davon abgesehen. Fast ein Jahrhundert später, um 2005, übernahm die Suva schliesslich die Verwaltung der Militärversicherung, die jedoch als eigenständige Sozialversicherung bestehen blieb. Ferner betrieb die Militärversicherung eigene Sanatorien und Spitäler in Arosa, Montana, Davos, Ragaz und Novaggio für die Rehabilitation erkrankter Soldaten im Allgemeinen und Tuberkulosepatienten im Speziellen. Die  Verwaltung der Militärversicherung geriet vor allem während des Zweiten Weltkriegs in die Kritik, da sie wegen der Zunahme der Versicherten infolge der Mobilisierung grosser Truppenkontingente hoffnungslos überfordert war.

Die Militärversicherung gilt als erste Sozialversicherung der Schweiz. Sie führte für kranke und verunfallte Soldaten das Versicherungsprinzip anstelle des Fürsorgeprinzips ein. Rein technisch betrachtet ist sie jedoch keine Versicherung, da sie keine Prämien erhebt und keine versicherungsmathematischen Risikoberechnungen anstellt. Auch die später eingeführten Genugtuungszahlungen, die immaterielle Schäden beheben sollen, unterscheiden sie von vergleichbaren Sozialversicherungen. Die Finanzierung der Militärversicherung wird vom Bund gewährleistet, der damit seiner Haftpflicht für verunfallte und erkrankte Armee-, Zivildienst- und Zivilschutzangehörige nachkommt.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Militärversicherungs-Schriftenreihe, 1, 1976 u. 2, 1979; Jmmer Werner A. (1921), Die Entwicklung der schweizerischen Militärinvaliden- und Militärhinterbliebenenfürsorge, Säckingen; Maeschi Jürg (2000), Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung (MVG) vom 19. Juni 1992, Bern; Morgenthaler W. (1939), Militärversicherung, in Handbuch der schweizerischen Volkswirtschaft, 179-80, Bern. HLS / DHS / DSS: Militärversicherung.

(12/2015)