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Heime und Anstalten

Seit dem 19. Jahrhundert hat sich in der Schweiz eine breite Vielfalt von fürsorgerischen Heimen und Anstalten herausgebildet. Sie dienen der Erziehung, Versorgung und Disziplinierung bestimmter, häufig armer Bevölkerungsgruppen. Solche Fremdplatzierungen waren bis in die 1980er-Jahre stigmatisierend und ausgrenzend, wurden aber seither grundlegend reformiert.

Die Geschichte der fürsorgerischen und erzieherischen Heime und Anstalten ist vielschichtig und schwer überschaubar. Die Armenfürsorge (Sozialhilfe) war seit jeher von einer Vielzahl privater und öffentlicher Organisationen geprägt. Zudem gehört sie zu den föderalistisch organisierten und vergleichsweise schwach regulierten Bereichen des schweizerischen Sozialstaats.  

Vom mittelalterlichen Spital zu den Armenerziehungsheimen des 19. Jahrhunderts

Die Anstalten und Heime der modernen Fürsorge stehen in der Tradition der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Spitäler, die gleichzeitig als Herbergen für Mittellose, Versorgungsanstalten für Witwen und Waisen, Krankenhäuser, Irrenanstalten und Gefängnisse dienten. Aus dem frühneuzeitlichen Spital entwickelten sich im 19. Jahrhundert sowohl kommunale Krankenspitäler als auch Alterswohnheime.

Seit dem Mittelalter galt für Arme die Arbeitspflicht, die als Zwangsarbeit (Schellenwerk) oder in Spitälern verrichtet wurde. Im 17. Jahrhundert wurden spezifische Zwangsarbeits- oder Korrektionsanstalten gegründet oder bestehende Spitäler zu solchen umfunktioniert.

Ende 18. und Anfang 19. Jahrhundert setzten schweizerische Pioniere der Armenerziehung wie Johann Heinrich Pestalozzi und Philipp Emanuel von Fellenberg neue pädagogische Massstäbe, welche die Gründung von Erziehungsheimen über das ganze 19. Jahrhundert hinweg beeinflussten. Die Kinder und Jugendlichen dieser Anstalten mussten praktische Arbeit in der Landwirtschaft oder in einem gewerblichen Betrieb verrichten. Die Arbeit sollte ihnen das moralische Rüstzeug für die spätere Integration in die Gesellschaft ausserhalb des Heims bereitstellen. Dies entsprach der zeitgenössischen Vorstellung, dass die Ursache von Armut zumeist in unsittlichem Lebenswandel liege.

Die Armenerziehungsheime standen im Zusammenhang mit der öffentlichen Fürsorge des 19. Jahrhunderts, der zufolge bedürftige Familien von der Heimatgemeinde unterstützt werden mussten. Die Gemeindebehörden bestimmten jedoch oft, Familien aufzulösen und die Kinder in Heimen, Anstalten oder Privathaushalten (Verdingung) zu platzieren, um die finanzielle Unterstützung möglichst klein zu halten. Die betroffenen Kinder stammten zumeist aus der Unterschicht oder waren unehelich geboren.

Die Heime waren dazu gezwungen, die Kosten möglichst tief zu halten. Sie taten dies unter anderem, indem sie die Kinder und Jugendlichen als Arbeitskräfte und Einkommensquelle nutzten. Das Personal der manchmal öffentlichen, zumeist aber gemeinnützigen beziehungsweise karitativen Anstalten war oftmals zu gering dotiert, schlecht ausgebildet und mit seinen Betreuungsaufgaben überfordert. Darüber hinaus trug auch die mangelhafte Aufsicht der Behörden dazu bei, dass die Verhältnisse in manchen Heimen desaströs waren. Viele Heimkinder wurden schlecht ernährt, ermangelten einer humanen Pflege und litten oftmals unter der Gewalt und dem sexuellen Missbrauch durch die Betreuerinnen und Betreuer. Die schulische und berufliche Ausbildung der Kinder kam häufig zu kurz, mit nachhaltigen Folgen für die persönliche Entwicklung und die berufliche Karriere der Betroffenen.

Ebenfalls im 19. Jahrhundert entstanden eine Vielzahl spezifischer Anstalten wie Behindertenheime, Kliniken und Pflegeanstalten für psychisch Kranke sowie Strafanstalten für Delinquenten. Sie alle übten die doppelte Funktion aus, ihre Insassen sowohl materiell zu versorgen als auch vom Rest der Gesellschaft auszuschliessen und zu verwahren.   

Heimlandschaft und fürsorgerische Zwangsmassnahmen seit 1900

Mit der Formation des Sozialstaats seit 1900 begann ein langer Prozess, der die Platzierungen in Heimen und Anstalten schrittweise von der ausgrenzenden und stigmatisierenden Logik entfernte und stattdessen pflegerische, therapeutische und sonderpädagogische Motive in den Vordergrund stellte. Spätestens seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sollten bedürftige Familien ihre Kinder dank sozialstaatlicher Einrichtungen behalten können.

In der Praxis wuchs im 20. Jahrhundert weiterhin eine grosse Anzahl von Kindern und Jugendlichen – zufolge von Schätzungen bis zu fünf Prozent der Kinder unter 14 Jahren – in Pflegefamilien oder Heimen auf. Viele wurden fremdplatziert, weil die Familienverhältnisse ökonomisch instabil waren oder in sittlicher Hinsicht als fragwürdig galten. Das neue Zivilgesetzbuch von 1907 sah Kindswegnahmen und fürsorgerische Fremdplatzierungen in Heimen oder privaten Haushalten vor, wenn ein Kind „verwahrlost“ oder „in seinem leiblichen und geistigen Wohl gefährdet“ war. Oft genügten eine Scheidung oder eine uneheliche Geburt als Gründe für eine Fremdplatzierung. Des Weiteren wurden renitente Kinder und Jugendliche auch in geschlossene Anstalten eingewiesen. Diese sogenannten „administrativen Versorgungen“ konnten auf Betreiben der Behörden, ohne Gerichtsentscheid und Rekursmöglichkeiten, vorgenommen werden. Auch rassistische Motive konnten Kindswegnahmen begründen. So betrieb die Pro Juventute von 1926 bis 1972 das sogenannte Hilfswerk „Kinder von der Landstrasse“, in dessen Rahmen rund 600 Kinder von Fahrenden, insbesondere von Sinti und Jenischen, fremdplatziert wurden. Viele der administrativ Versorgten mussten in ihren Anstalten Zwangsarbeit verrichten. 

In den 1970er-Jahren machte eine kritische Öffentlichkeit gegen die Missstände im Heim- und Anstaltswesen mobil und bewirkte eine Verbesserung der Betreuungsbedingungen und Erziehungsmethoden. Im Jahr 1981 wurde beispielsweise das Instrument der administrativen Versorgungen abgeschafft und durch den fürsorgerischen Freiheitsentzug ersetzt. Auch die Europäische Menschenrechtskonvention, die von der Schweiz 1974 ratifiziert wurde, war massgebend für die Abschaffung der rechtsstaatlich fragwürdigen Behördenkompetenzen. 

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Markus Furrer et al. (ed.) (2014), Fürsorge und Zwang. Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz 1850-1980 / Entre assistance et contrainte: le placement des enfants et des jeunes en Suisse 1850-1980, Basel ; Martin Lengwiler et al. (2013), Bestandsaufnahme der bestehenden Forschungsprojekte in Sachen Verding- und Heimkinder. Bericht zuhanden des Bundesamts für Justiz EJPD, Basel ; HLS / DHS / DSS: Anstaltswesen; Erziehungsheime.

(12/2016)