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Sozialversicherungen, Sozialstaat und Soziale Sicherheit

Für das Gefüge moderner sozialpolitischer Einrichtungen gibt es unterschiedliche Begriffe. In der schweizerischen Öffentlichkeit dominiert seit dem 19. Jahrhundert der Begriff „Sozialversicherungen“. Alternative Bezeichnungen wie „Sozialstaat“, „Wohlfahrtsstaat“ oder „Soziale Sicherheit“ werden dagegen selten oder nur in Fachkreisen benutzt.

Begriffe wie „Sozialversicherung“, „Sozialstaat“, „Wohlfahrtsstaat“ oder „Soziale Sicherheit“ bezeichnen oft ähnliche Einrichtungen, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten. Die Begriffe haben sich zudem historisch stark gewandelt und erhielten in der Schweiz eine spezifische, vom nationalen Umfeld geprägte Bedeutung.

Sozialversicherungen

In der Schweiz baute der Staat erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen breiten Schutz vor sozialen Risiken auf. Begriffe wie "Sozialstaat" oder "Wohlfahrtsstaat" waren deshalb in der Schweiz lange Zeit unüblich. Anders der Begriff der Sozialversicherung. Bereits 1890 erteilte die Verfassung (Art. 34bis) dem Bund die Kompetenz, einzelne Versicherungszweige, insbesondere die Kranken- und Unfallversicherung, als Sozialversicherung zu organisieren. Der Bund orientierte sich dabei an Deutschland, das in den 1880er-Jahren eine obligatorische Kranken- und Unfallversicherung sowie die Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiterinnen, Arbeiter und andere Lohnabhängige eingeführt hatte. Spätestens nachdem 1912 die Kranken- und Unfallversicherung an der Urne angenommen wurde und der Bund daraufhin das Bundesamt für Sozialversicherung BSV (1913) sowie das Eidgenössische Versicherungsgericht (1917) gründete, wurde der Begriff der "Sozialversicherungen" von einer breiteren Öffentlichkeit aufgegriffen.

Wissenschaftliche Experten und Expertinnen trugen ebenfalls dazu bei, dass der Begriff der Sozialversicherungen zunehmende Verbreitung fand. Beteiligt waren insbesondere versicherungsnahe Disziplinen wie die Versicherungsmathematik, die Arbeits- und Versicherungsmedizin oder das Versicherungsrecht. Der Begriff der Sozialversicherungen – oder der „Arbeiterversicherungen“ – dominierte auch die internationalen Debatten. Dies manifestiert sich etwa an den zahlreichen Kongressen zu sozialpolitischen Fragen wie etwa dem Internationalen Kongress für Arbeiterversicherung (ab 1889) oder dem Internationalen Kongress für Versicherungsmathematik (ab 1895). An der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) bot Ernst Amberg ab 1917 eine Vorlesung zu „mathematischen Problemen der Sozialversicherungen“ an.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Begriff der Sozialversicherungen aktuell, weil er eine Vielzahl von Versicherungsformen und Trägern auf einen Nenner brachte und damit gut zu den schweizerischen Verhältnissen passte. Die anhaltende Konjunktur des Begriffs zeigt sich etwa in der 1957 ins Leben gerufenen „Zeitschrift für Sozialversicherung“. Die Zeitschrift brachte juristische, medizinische und mathematisch-statistische Expertinnen und Experten aus verschiedenen Sozialversicherungszweigen sowie von staatlichen, öffentlich-rechtlichen und privaten Einrichtungen zusammen. Sie sollte mithelfen, jene Fragen zu klären, welche die „gewaltige Ausdehnung der Sozialversicherung“ mit sich brachte. Im Jahr 1981 wurde sie in „Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge“ umbenannt.

Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat

Die Begriffe Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat fanden in der Schweiz erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine grössere Verbreitung. Ihr Gebrauch war von Beginn weg auch parteipolitisch und ideologisch geprägt. Im Unterschied zum Begriff der Sozialversicherungen zielten „Sozialstaat“ und „Wohlfahrtsstaat“ auf den Staat als zentralen Träger der Sozialpolitik. Damit stellte sich die Frage nach Ausmass und Grenzen staatlicher Interventionen in der Sozialpolitik. Ein frühes Beispiel für diese parteiliche Begrifflichkeit ist eine Streitschrift, die der Zürcher Pfarrer und Sozialist – und spätere Zürcher Stadtrat und Nationalrat – Paul Pflüger 1899 unter dem Titel „Der schweizerische Sozialstaat“ veröffentlichte. Im Stil der zeitgenössischen Zukunftsromane entwarf er darin seine idealistischen Vorstellungen, wie der schweizerische Sozialstaat ein halbes Jahrhundert später aussehen würde. Pflügers Sozialstaat war nicht auf das Sozialwesen im engeren Sinn beschränkt, sondern bot weitgehende staatliche Dienstleistungen, garantierte verschiedene soziale Grundrechte und wurde sowohl von staatlichen wie von öffentlich-rechtlichen Einrichtungen betrieben. Die wirtschaftlichen Verhältnisse sah Pflüger weitgehend reguliert, entweder durch die Sozialpartner oder durch den Staat.

Der Begriff Wohlfahrtsstaat wurde (wie „Etat-providence“ im Französischen) bis Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem von konservativen und liberalen Kritikern der Sozialversicherungen verwendet. In dieser Verwendung unterstellte der Begriff, dass der Staat zu stark in den sozialen Bereich interveniere. Der Ökonom und Sozialphilosoph Wilhelm Röpke beispielsweise kritisierte 1955 in „Grenzen und Gefahren des Wohlfahrtsstaates“ die Ausbreitung des Staatsinterventionismus in der Nachkriegszeit. Der „mechanisierten Massenfürsorge des zentralisierten Wohlfahrtstaates“ stellte er die „bunte Vielfalt von kleineren, verschiedenartigen Institutionen“ als positives Gegenbeispiel gegenüber. Röpke sah die Schweiz zusammen mit den Vereinigten Staaten als Vorbild für sein schlankes, anti-etatistisches Gegenmodell zum Wohlfahrtsstaat.

Auf internationaler Ebene bildete der Beveridge-Bericht von 1942 einen Wendepunkt in der Deutung des „welfare state“ (Wohlfahrtsstaats). Beveridge deutete  den Begriff positiv; die breite Beachtung seines Berichts verschaffte dem neuen Wohlfahrtsverständnis internationale Geltung. In der Schweiz setzte sich diese positive Deutung jedoch nur allmählich durch. Der allgemeine deutsche Sprachgebrauch zieht den Begriff „Sozialstaat“ gegenüber dem international gebräuchlicheren Begriff Wohlfahrtsstaat bis heute vor. Im Französischen dagegen wird „Etat social“ vergleichsweise selten verwendet.

Anders als in Politik und Öffentlichkeit fand der Begriff des Wohlfahrtsstaates im akademischen Bereich eine breite Aufnahme. Insbesondere in den Sozialwissenschaften erlebte der Begriff seit den 1980er-Jahren – vornehmlich als Übersetzung des englischen „welfare state“ – eine Hochkonjunktur. Bei den Expertengruppen, die aus beruflichen Gründen mit Sozialer Sicherheit zu tun haben, hat sich dagegen der Sozialstaatsbegriff gegenüber jenem des Wohlfahrtstaates besser eingebürgert.

Soziale Sicherheit

Unter den hier besprochenen Begriffen ist „Soziale Sicherheit“ die jüngste und profilierteste Bezeichnung. Sie wird vor allem in der Wissenschaft sowie von Expertinnen und Experten der Sozialstaatseinrichtungen verwendet. Die Bedeutung von Sozialer Sicherheit ist umfassender als jene von Sozialversicherungen, weil sie auch jene Bereiche einbezieht, bei denen die Absicherung durch private Organisationen (zum Beispiel Pensions- und Krankenkassen) und nicht durch den Staat erfolgt.

Die Bezeichnung „Soziale Sicherheit“ wurde auf internationaler Ebene geprägt. Der amerikanische Social Security Act von 1935, der Leistungen im Bereich der Alters– und Arbeitslosenversicherung einführte, machte die Soziale Sicherheit zu einem Schwerpunkt des New Deals. Des Weiteren wurde der Begriff 1944 anlässlich der „Erklärung von Philadelphia“ der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) benutzt. Das Beispiel der International Social Security Association (ISSA) zeigt auf, dass auch auf der internationalen Ebene der Begriff der „Sozialversicherungen“ durch „Soziale Sicherheit“ ergänzt und teilweise abgelöst wurde. Die ISSA wurde 1927 als „Conférence internationale des unions nationales de sociétés mutuelles et de caisses d'assurance maladie“ gegründet und 1936 in „Conférence internationale de la mutualité et des assurances sociales“ unbenannt. Erst 1947 wechselte sie zur heutigen Bezeichnung, die den Begriff „Soziale Sicherheit“ enthält. Weiteren Geltungsbereich erhielt die Bezeichnung 1945 mit dem Beschluss der französischen Sécurité sociale, die sich in den folgenden Jahrzehnten zum umfassenden Sozialversicherungssystem entwickelte. Ferner schrieb die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" der UNO von 1948 ein "Recht auf Soziale Sicherheit" fest (Art. 22). Die Internationale Arbeitsorganisation bezeichnete in einem ihrer wichtigsten Erlasse, dem „Übereinkommen 102“ über die „Mindestnormen der sozialen Sicherheit“ von 1952 neun verschiedene soziale Risiken, vor denen das Individuum geschützt werden sollte: Krankheit, Verdienstausfall infolge von Krankheit, Alter, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Mutterschaft, Invalidität, Tod und Familienlasten. Die Schweiz ratifizierte das Übereinkommen zunächst nicht, weil sie die Mindestkriterien noch nicht erfüllte und holte dies erst 1977 nach.

Seit dieser Zeit verwendet auch das Bundesamt für Sozialversicherungen die Bezeichnung „Soziale Sicherheit“, um seinen Kompetenzbereich zu umreissen. Seit 1993 gibt es die Zeitschrift „Soziale Sicherheit“ heraus. Dem internationalen Gebrauch folgend definierte das BSV Soziale Sicherheit als „die Gesamtheit der Massnahmen öffentlicher und privater Institutionen mit dem Ziel, Personen oder der Haushalte vor sozialen Risiken zu schützen und deren Existenz zu sichern“. Diese Definition streicht hervor, dass Soziale Sicherheit nicht nur staatliche Sicherungsformen umfasst, auch wenn der Staat darin eine zentrale Stellung einnimmt.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Lengwiler Martin (2015), Cultural Meanings of Social Security in Postwar Europe, in Social Science History 39, 85-106 ; Cédric Guinand (2008), Zur Entstehung von IVSS und IAO, in Internationale Revue für Soziale Sicherheit 61, 93-111 ; Bundesamt für Sozialversicherungen (2007), Soziale Sicherheit. Forschungskonzept 2008-2011, Bern; HLS / DHS / DSS: Soziale Sicherheit; Sozialstaat; Sozialversicherungen; Sozialpolitik.

(12/2016)