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Alter

Die Frage, wie man älteren Menschen ein angemessenes Einkommen gewährleistet, wurde im 20. Jahrhundert viel und kontrovers diskutiert. Aufgrund der bedeutenden Mittel, die dafür aufgewendet werden, und der Zahl der davon abhängigen Personen ist die Altersvorsorge bis heute ein heikles Thema der sozialen Sicherheit.

Altersversorgung vor 1914

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert erlebte die Schweizer Gesellschaft eine erste Phase der demografischen Alterung. Der Platz der älteren Menschen in der Gesellschaft musste neu verhandelt werden. Damals war die Frage der Altersrente eng mit den Risiken Invalidität und Krankheit verknüpft, da ältere Menschen davon häufiger betroffen waren und der Zugang zu einem ausreichenden Einkommen ungewiss blieb. Die Frage, wie man älteren Menschen ein würdiges Leben gewährleistet, wurde damit zu einer grundlegenden sozialen Problemstellung. Vor 1914 gab es nur eine Handvoll Pensionskassen in den öffentlichen Verwaltungen und einigen innovativen Unternehmen. Einige Kantone, etwa Waadt und Neuenburg 1907, führten die fakultative Altersvorsorge ein. Wohltätige Einrichtungen liessen ebenfalls mittellosen oder invaliden Betagten punktuelle Hilfe zukommen. Dennoch arbeiteten die meisten älteren Menschen fast bis zum Lebensende und konnten nur von der Fürsorge oder ihrer Familie Unterstützung erwarten. Den Ruhestand als spezifischen Lebensabschnitt mit einem geregelten Einkommen gab es damals noch nicht.

Die grundlegenden Fragen zur Altersrente standen ab 1890 zur Debatte. Der Handlungsbedarf zugunsten älterer Menschen war praktisch unbestritten, aber die verschiedenen Möglichkeiten der Altersvorsorge gaben zu Diskussionen Anlass: Soll man eine Altersversicherung einführen oder sich mit Unterstützungsleistungen für einzelne Fälle begnügen und damit die Einzelnen dazu ermutigen, selber für das Alter vorzusorgen, namentlich durch Sparen? Wer soll die Organisation dieser Unterstützung übernehmen: der Bund, die Kantone, die Unternehmen oder Privatpersonen? Kann man ein solches Programm über Steuern, Lohnabzüge oder Spareinkommen finanzieren? Wie hoch sollen die ausgerichteten Leistungen sein, und wie kann man das eingeführte System nachhaltig gewährleisten? Diese Fragen wurden über das gesamte 20. Jahrhundert immer wieder gestellt und sind auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch aktuell. Die Altersvorsorge blieb jedoch zwischen 1890 und 1914 zweitrangig, da sich die Debatten über die Soziale Sicherheit damals zunächst auf die Unfall-und Krankenversicherung konzentrierten. Nachdem der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu einem kurzen Unterbruch der sozialpolitischen Auseinandersetzungen führte, tauchte die Frage der Altersrente jedoch rasch wieder auf der politischen Agenda auf.

Aufkommen der Pensionskassen und der AHV-Vorlage, 1918–1938

Nach dem Krieg war die Schaffung einer Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung eine wichtige Forderung der Arbeiterbewegung, die namentlich im Generalstreik von 1918 geäussert wurde. In der Zwischenkriegszeit hatte das Anliegen jedoch einen schweren Stand. Die ersten Entwürfe für ein Altersrentensystem auf Bundesebene stammen aus dem Jahr 1919, aber es dauerte bis 1925, bis eine Verfassungsrevision den Weg zu einer Gesetzesvorlage ebnete. Diese wurde unter der Leitung des freisinnigen Bundesrats Edmund Schulthess in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre erarbeitet. Die eidgenössischen Räte hiessen die als Lex Schulthess bezeichnete Vorlage für eine Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) 1929 gut. Sie scheiterte indes am Referendum, das von konservativen, sozialversicherungsfeindlichen Kreisen ergriffen worden war: Die Lex Schulthess wurde am 7. Dezember 1931 vom Volk abgelehnt. Dabei war die Vorlage zwischen 1918 und 1931 bereits mehrfach überarbeitet worden. So wurden namentlich die vorgesehenen Renten verringert und der Teil gestrichen, der die Einführung einer Invalidenversicherung vorsah. Eine Teilfinanzierung der Renten über Steuern stellte den grössten politischen Stolperstein dar und stiess bei den bürgerlichen Parteien auf Widerstand, die sich gegen ein stärkeres Eingreifen des Bundes wehrten. Die Frage der Zusammenarbeit oder des Wettbewerbs zwischen dem künftigen Rentensystem und den bestehenden Vorsorgeeinrichtungen löste ebenfalls Befürchtungen aus, namentlich in Arbeitgeberkreisen. So sah die Lex Schulthess sehr tiefe Renten vor, um nicht mit den Leistungen der Pensionskassen zu konkurrieren. Die Finanzierung sollte im Wesentlichen auf Lohnabzügen und Beiträgen aus der Tabak- und Alkoholsteuer beruhen.

Während die erste AHV-Vorlage scheiterte, sah die Situation bei den Pensionskassen ganz anders aus. Der private Vorsorgebereich erlebte unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg einen ersten Aufschwung und blieb weitgehend von den Kontroversen um die AHV verschont. Die von den Arbeitgebern kontrollierten oder auch von den Lebensversicherern geführten Pensionskassen entwickelten sich dezentralisiert, gefördert durch steuerliche Entlastungen und die Indienstnahme der Vorsorge zur Kontrolle und Bindung der Arbeitskräfte. Die Vertreter der Pensionskassen waren bezüglich der Lex Schulthess geteilter Meinung, aber das Scheitern im Jahr 1931 hinterliess ein Vakuum, das für sie günstig war und ihnen ermöglichte, ihre Kassen weiterzuentwickeln, ohne staatliche Konkurrenz befürchten zu müssen. Diese unterschiedlichen Entwicklungen – die Verbreitung der privaten Vorsorge auf der einen, das Scheitern der Sozialversicherung auf der anderen Seite – sollten die weitere Geschichte der Altersvorsorge prägen. Sie legten den Grundstein zur gemischten Altersvorsorge, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzte.

Die AHV als Jahrhundertereignis, 1938–1948

Das triumphale Ja des Stimmvolkes zur AHV am 6. Juli 1947 (80 Prozent Ja-Stimmen bei einer Stimmbeteiligung von 79 Prozent) ging als „Jahrhundertereignis“ in die Schweizer Geschichte ein. Ein «Jahrhundertereignis» deshalb, weil sich die AHV rasch zum identitätsstiftenden Symbol für den schweizerischen Sozialstaat entwickelte. Dieser Erfolg war jedoch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges noch alles andere als absehbar. 

1941 deckten die kantonalen Altersversicherungen kaum 5 Prozent der Bevölkerung ab, und die demografische Alterung brachte die Unzulänglichkeit der bestehenden Fürsorgestrukturen und Unterstützungsangebote ans Licht. 1938 brachte eine Motion des freisinnigen Nationalrats Arnold Saxer die Frage einer eidgenössischen AHV wieder auf den Tisch. 1939 lag die Priorität im Sozialversicherungsbereich jedoch bei der Erwerbsersatzordnung (EO) für die mobilisierten Soldaten. Erst 1943, als sich der Krieg zugunsten der Alliierten wendete und international mehrere Sozialversicherungsvorlagen – wie der britische Beveridge-Plan – ausgearbeitet wurden, stand die AHV wieder oben auf der politischen Agenda. Angeregt durch die Popularität der EO sprachen sich mehrere kantonale Initiativen sowie die Volksinitiative Gesichertes Alter, die breite politische Unterstützung fand, für eine rasche Einführung einer AHV aus. Von da an beschleunigten sich die Ereignisse. 1944 kanalisierte der für das Dossier zuständige freisinnige Bundesrat Walther Stampfli die verschiedenen Initiativen und liess durch das Bundesamt für Sozialversicherungen einen AHV-Gesetzesentwurf ausarbeiten, der die Strukturen (Ausgleichskassen) und das Finanzierungssystem der EO übernahm. Im Umlageverfahren finanzieren die laufenden Einnahmen, die im Wesentlichen aus lohnabhängigen Beitragszahlungen der Versicherten bestanden, unmittelbar die Versicherungsleistungen. Das Gesetz wurde Ende 1946 von der Bundesversammlung angenommen und setzte sich im Juli 1947 gegen ein Referendum der konservativen Rechten durch. Auch mehrere westeuropäische Länder führten nach 1945 Grundrenten ein, die entweder mit lohnabhängigen Beiträgen oder mit Steuermitteln finanziert wurden.

Der Erfolg der AHV ist namentlich darauf zurückzuführen, dass sie die bestehenden Vorsorgeeinrichtungen nicht in Frage stellte. Im Gegenteil: die bescheidenen AHV-Renten – 1948 machten sie etwa 10 Prozent eines Industriearbeiterlohns aus – dienten den Pensionskassen, die bereits während des Zweiten Weltkriegs einen weiteren Aufschwung erfahren hatten, als Trittbrett. Denn nun wurden die Pensionskassen erneut zu einem zentralen Pfeiler der Sozialpolitik der Arbeitgeber. Auch wenn die Aufgabenteilung zwischen einer minimalen AHV und den Vorsorgeeinrichtungen mit ihren ergänzenden Leistungen unter Fachleuten für heftige Debatten sorgte, wurde sie im Gesetz nicht explizit erwähnt. Eine derart offene Konstellation war jedoch ein zentrales Ziel für Walther Stampfli wie auch für die Lebensversicherer. Für Letztere war lediglich eine AHV akzeptabel, die die Eigenständigkeit und Weiterentwicklung der privaten Vorsorge gewährleistet.

Ausbau der Altersrenten und die Drei-Säulen-Doktrin, 1948–1985

In den Jahrzehnten des Wachstums in der Nachkriegszeit wurden die staatliche und die private Altersvorsorgen gleichermassen ausgebaut. Die zentrale Herausforderung dieser Zeit bestand darin, Abgrenzungen und eine Aufgabenteilung zwischen den beiden Bereichen vorzunehmen. Auf der AHV-Seite wurde diskutiert, wie die bescheidene Grundrente erhöht werden konnte. Seit den 1950er- und 1960er-Jahren stellten sich auch andere westeuropäische Länder die Frage, wie das bescheidene Niveau der staatlichen Grundversicherungen zur Altersvorsorge durch Zusatzversicherungen erhöht werden konnten. Die getroffenen Massnahmen unterschieden sich von Land zu Land. In Frankreich wurden zu den regulären Renten parallele „Spezialregime“ eingerichtet, die je nach Branche und Unternehmen unterschiedlich ausgestattet waren. Die Basis- und die Zusatzrenten wurden beide im Umlageverfahren finanziert. Auch Deutschland, Österreich und Italien setzten bei den Zusatzrenten auf das Umlageverfahren. Im Gegensatz dazu entschieden sich die Niederlande und Grossbritannien gleich wie die Schweiz für Pensionskassen, die entweder von einzelnen Unternehmen oder von Lebensversicherungsgesellschaften verwaltet werden. Die im Kapitalisierungsverfahren angehäuften Pensionskassenbeiträge wurden investiert, um die zukünftigen Renten finanzieren zu können. Auch in den skandinavischen Ländern spielte das Kapitalisierungsverfahren eine entscheidende Rolle, die Rentenfonds wurden hier direkt vom Staat kontrolliert.

Zwischen 1951 und 1975 wurde die AHV achtmal revidiert. Die Revisionen beinhalteten verschiedene Leistungsverbesserungen (die Renten stiegen von 10 Prozent eines Durchschnittslohns im Jahr 1948 auf 35 Prozent im Jahr 1975) sowie höhere Lohnabzüge, die die wichtigste Finanzierungsquelle der Renten darstellten. Die rasche Folge der Revisionen war teilweise darauf zurückzuführen, dass, im Gegensatz zu mehreren Nachbarländern – namentlich Deutschland (1957) – die AHV-Renten erst spät an die steigenden Lebenshaltungskosten angepasst wurden (die Rentenindexierung wurde erst 1979 eingeführt). Der Ausbau der AHV blieb im kollektiven Gedächtnis unter dem Begriff „Tschudi-Tempo“ haften, benannt nach dem beliebten SP-Bundesrat Hans-Peter Tschudi, von 1960 bis 1973 Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern. Der AHV-Ausbau leistete auch der Entwicklung der privaten Vorsorge Vorschub: Die Zahl der Pensionskassen und der ihnen angeschlossenen Personen stieg ständig. Die Lebensversicherer positionierten sich ebenfalls auf dem Vorsorgemarkt und verwalteten eine zunehmende Zahl von Pensionskassen, vor allem für kleine und mittlere Unternehmen. 

Der Ausbau der AHV und der Pensionskassen trug dazu bei, dass die Furcht der Gesellschaft vor dem Altern abnahm. Das Bild der Altersarmut, das den Beginn des Jahrhunderts geprägt hatte, wurde allmählich von der Vorstellung eines gesicherten Alters abgelöst. Mit der allgemeinen Einführung der Altersrenten wurde der Ruhestand zu einem besonderen Lebensabschnitt. Diese tiefgreifende Veränderung ging mit immer höheren Ansprüchen an das Altersvorsorgesystem und einer grundlegenden Diskussion einher, wie das System in Zukunft weiter auszugestalten sei. Bereits 1965 füllte die Einführung der Ergänzungsleistungen zur AHV gewisse Lücken im eidgenössischen Rentensystem. Die ursprünglich als Übergangsmassnahme gedachten Ergänzungsleistungen zeigten, dass viele betagte Menschen trotz des Ausbaus der Vorsorge in schwierigen oder gar prekären wirtschaftlichen Verhältnissen lebten. Die Pensionskassen trugen nur teilweise zur Problemlösung bei. Die bestehenden Vorsorgeeinrichtungen richteten sich damals noch an einen beschränkten Kreis von Arbeitnehmenden. Nur wenige Frauen und Personen mit tiefem Einkommen waren ihnen angeschlossen. (Statistiken

Sollten die AHV-Leistungen minimal bleiben oder im Gegenteil ausgebaut werden, damit sie einen grösseren Teil des früheren Einkommens abdeckten? Sollte man statt eines Ausbaus der staatlichen Altersrenten nicht eher dafür sorgen, dass alle Personen einer Pensionskasse angeschlossen werden? Diese Optionen stellten die unausgesprochene Aufgabenteilung zwischen der AHV und den Pensionskassen in Frage und zeigten die zunehmende Verflechtung zwischen den beiden Bereichen auf. Diese Debatten kamen in den 1960er-Jahren auf, als die so genannte Drei-Säulen-Doktrin entstand. Dieses System wollte die Entwicklung der AHV (erste Säule) in einem beschränkten Rahmen halten und gleichzeitig die Schlüsselrolle der Pensionskassen (zweite Säule) und der individuellen Vorsorge (dritte Säule) festigen. Befürworter der privaten Vorsorge und insbesondere die Lebensversicherer machten sich für diese Idee stark. Die Drei-Säulen-Doktrin wurde bald zur Gegenvorlage zum Konzept der Volkspension, das im selben Zeitraum bei der extremen Linken und beim linken Flügel der sozialdemokratischen Partei aufkam. Die beiden Volkspensionen Projekte befürworteten einen massiven Ausbau der AHV-Leistungen, kritisierten die private Verwaltung der Vorsorgegelder und verlangten eine stärkere Regulierung oder sogar die völlige Ausklammerung der Pensionskassen. Das Model der Volkspension war jedoch weit davon entfernt, bei der gesamten Linken Zustimmung zu finden. Hans-Peter Tschudi sowie zahlreiche Gewerkschaften, die Wert auf die paritätische Verwaltung der Kassen legten, lehnten Volkspensionen klar ab. 

Zwischen 1969 und 1972 traten die beiden Konzepte im Zusammenhang mit drei Volksinitiativen in einen eigentlichen Wettstreit zueinander: Zur Diskussion stand eine von der politischen Rechten, den Versicherern und Arbeitgebern getragene Initiative für das Drei-Säulen-Modell sowie zwei Initiativen aus dem linken Lager, die für verschiedene Varianten der Volkspension eintraten. Der von Hans-Peter Tschudi ausgearbeitete Gegenvorschlag übernahm schliesslich das Prinzip des Drei-Säulen-Modells. Faktisch kombinierte er die Entwicklung einer obligatorischen zweiten Säule mit der gleichzeitigen Erhöhung der AHV-Renten, um den Anliegen der Befürworter der Volkspension zu begegnen. Diese Vorlage wurde am 3. Dezember 1972 vom Volk deutlich angenommen. 

Die Abstimmung von 1972 bestätigte und festigte die Aufgabenteilung zwischen der AHV und der privaten Vorsorge. Sie lieferte jedoch keine Antwort auf die Frage nach der weiteren Umsetzung der zweiten Säule, die nun obligatorisch war. Die Wirtschaftskrise verzögerte die Umsetzung der ersten Gesetzesvorlage. Diese stiess auf den Widerstand der Privatvorsorge-Lobby, die fest entschlossen war, die staatliche Einflussnahme auf die Pensionskassen zu minimieren. Das Bundesgesetz über die Berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) wurde von der Bundesversammlung schliesslich 1982 verabschiedet und 1985 in Kraft gesetzt. Es handelte sich um ein minimales Rahmengesetz, das jedoch die Zahl der von den Pensionskassen abgedeckten Personen deutlich erhöhte, wovon insbesondere Frauen profitierten. Was die Festsetzung der Leistungen und die Anlage der Vorsorgegelder anbelangte, schützte es aber grösstenteils die Autonomie der Kassen. Das Gesetz legte zum Beispiel keine Mindesthöhe für die Leistungen der Pensionskassen fest. 

Im internationalen Vergleich sticht das schweizerische Rentensystem durch die zunehmende Tragweite des Kapitalisierungsverfahrens (zweite Säule) und durch die hohe Anzahl an Pensionskassen hervor. Während in der Schweiz um 1980 fast 10'000 Pensionskassen tätig waren, gab es zur selben Zeit in den Niederlanden nur gerade einige Dutzend Einrichtungen, deren Dienste jeweils ganze Branchen abdeckten. 

Altersrenten und Alterspolitik zur Jahrtausendwende

Seit 1985 haben die Grundkonturen des Vorsorgesystems keine strukturellen Änderungen mehr erfahren: Die Drei-Säulen-Doktrin hat sich als Grundlage durchgesetzt. Dennoch dauerte es bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, bis die Zukunft der AHV und der beruflichen Vorsorge gesamtheitlich betrachtet wurde. In beiden Bereichen geriet der Erhalt der Altersrenten immer mehr in den Mittelpunkt der Debatten.

Im Bereich der AHV ist seit Mitte der 1970er-Jahre eine Veränderung zu beobachten, die einem Tempo- und zugleich einem Perspektivwechsel gleichkam. Während die ersten acht AHV-Revisionen, die zwischen 1948 und 1972 in kurzen Abständen durchgeführt worden waren, im Zeichen des Rentenausbaus standen, erfolgten die nächsten drei Revisionen in grösseren Abständen und beschränkten sich auf die Optimierung der bestehenden Leistungen, die namentlich zur besseren Berücksichtigung der Erwerbsbiografien von Frauen in der AHV führen sollten. Seit dem Jahr 2000 stehen Sparmassnahmen und die Sicherstellung der Finanzierung im Fokus. Das langsamere Wirtschaftswachstum, die Zunahme der demografischen Alterung sowie die liberale Kritik am Sozialstaat beeinflussten die Debatten dauerhaft. Zudem ist zu beobachten, dass die AHV-Revisionen zu Konflikten führten: Nach einem ersten Referendum gegen die 9. AHV-Revision (1979 angenommen) erstreckte sich die 10. AHV-Revision über mehr als ein Jahrzehnt und gab zu intensiven Kontroversen Anlass. Die Erhöhung des Frauenrentenalters, die von SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss als Gegenleistung für die Verbesserung der Situation der Frauen in der AHV ins Spiel gebracht wurde, ermöglichte schliesslich das Reformpaket, das 1995 angenommen wurde. Auch die Sparmassnahmen im Rahmen der 11. AHV-Revision, für die der freisinnige Bundesrat Pascal Couchepin verantwortlich war, stiessen auf erbitterten Widerstand. Die 11. Revision wurde von der politischen Linken und den Gewerkschaften mit einem Referendum bekämpft und scheiterte 2004 in der Volksabstimmung und ein weiteres Mal 2010 im Parlament. Ungeachtet dieser Ereignisse beweist die AHV grosse Stabilität und dies trotz Wirtschaftskrisen, demografischer Alterung und der Verdoppelung der Rentenberechtigten, deren Zahl zwischen 1980 und 2010 von einer auf zwei Millionen stieg. Von 1975 bis 2005 nahmen die Ausgaben der AHV von 5,6 auf 6,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu, was einer Zunahme von etwas weniger als 20 Prozent entspricht.

Bis in die 2000er-Jahre entwickelte sich der Bereich der beruflichen Vorsorge abseits der politischen Agenda. Von 1978 bis 2008 stieg der Anteil der Personen, die einer Pensionskasse angeschlossenen waren, von 50 auf 85 Prozent der Erwerbsbevölkerung und die Zahl der Personen, die eine BVG-Rente bezogen, von 300.000 auf 900.000 (dies entspricht 30, beziehungsweise 50 Prozent der Personen, die eine AHV-Rente beziehen). Diese Zahlen erklären die zunehmenden Ausgaben im BVG-Bereich: Diese haben sich seit Mitte der 1970er-Jahre mehr als verdoppelt und stiegen zwischen 1975 und 2005 von 2.8 auf 7.7 Prozent des Bruttoinlandprodukts, womit sie die Aufwendungen der AHV hinter sich gelassen haben. Im gleichen Zeitraum sank die Zahl der Pensionskassen auf ein Viertel (von 10.000 auf 2400 Kassen) und die Vorsorgefonds etablierten sich als wichtige institutionelle Investoren. Das Vermögen der Kassen stieg innert dreissig Jahren von 82 auf 660 Milliarden Franken beziehungsweise von 54 auf 123 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das wachsende Gewicht der beruflichen Vorsorge innerhalb des Rentensystems und ein finanzieller Kontext, der von demografischer Alterung und grosser Instabilität an den Finanzmärkten geprägt ist, tragen seit 2000 zu ihrer zunehmenden Politisierung bei. Die erste BVG-Revision von 2003, die einen verbesserten Zugang für Personen im Niedriglohnsektor und eine erste Senkung des Umwandlungssatzes zur Rentenberechnung vorsah, konnte in Kraft treten, ohne dass das Referendum ergriffen wurde. 2010 stiess eine weitere Senkung des Umwandlungssatzes jedoch auf breiten Widerstand der Linken und scheiterte in der Volksabstimmung. Nachdem solche versicherungstechnische Parameter lange Zeit Versicherungsexperten überlassen wurden, sind sie nun Gegenstand intensiver politischer Kontroversen.

Die Wechselwirkungen zwischen der AHV und den Pensionskassen prägten die hundertjährige Geschichte der Altersvorsorge. Die individuelle Vorsorge blieb im Vergleich dazu ein marginaler Bereich. Dennoch wurden AHV und Pensionskassen von der Politik nur selten zusammen behandelt. Erst mit der Vorlage «Altersvorsorge 2020», einer kombinierten Reform der ersten und der zweiten Säule, wurden die Diskussionen zur Zukunft der Altersvorsorge zum ersten Mal zusammen geführt und aufeinander abgestimmt. Im September 2017 lehnte das Stimmvolk das Reformprojekt allerdings knapp ab. Hauptgrund für das Scheitern der Vorlage war die vorgesehene Erhöhung des Frauenrentenalters. Nach der Ablehnung beschloss der Bundesrat, AHV und Pensionskassen vorerst getrennt voneinander zu reformieren. Erst die Verbindung der AHV-Vorlage mit einer Steuerreform brachte 2019 einen vorläufigen Ausweg aus der Reformblockade. Die im Mai 2019 angenommene Reform sicherte der AHV Mehreinnahmen zu, die durch den Bund, die Unternehmen und die Versicherten getragen wurden. Die AHV-Beiträge stiegen leicht an, das Rentenalter blieb dagegen unverändert. Das eigentliche Reformprojekt blieb aber weiterhin aktuell. Der Bundesrat lancierte 2019 das Projekt «AHV 21», das eine Erhöhung des Frauenrentenalters und Ausgleichsmassnahmen für Frauen mit niedrigem Einkommen vorsieht. Geplant ist zudem eine Flexibilisierung des Rentenalters mit Anreizen zur Weiterführung der Erwerbsarbeit sowie eine leichte Erhöhung der Mehrwertsteuer. Im Zuge des Frauenstreiks im Juni 2019 erhielt die Kritik an der Erhöhung des Rentenalters von Frauen jedoch Auftrieb, weshalb Linksparteien und Gewerkschaften die Reform ablehnen.

> Die Altersvorsorge in Zahlen

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Leimgruber Matthieu (2008), Solidarity without the state? Business and the shaping of the Swiss welfare state, 1890–2000, Cambridge; Leimgruber Matthieu (2010), La doctrine des trois piliers: Entre endiguement de la sécurité sociale et financiarisation des retraites, 1972-2010, Yverdon. HLS / DHS / DSS: Alters- und Hinterlassenenversicherung, Altervorsorge, Pensionskassen.

(01/2019)