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Arme

Im Verlauf der Sozialstaatsgeschichte werden sehr unterschiedliche Personengruppen als arm bezeichnet, je nachdem wie Armut gesellschaftlich wahrgenommen wird. In allen historischen Epochen wird Armut jedoch als moralische Frage verhandelt. Moderne Gesellschaften unterscheiden häufig zwischen zwei Kategorien von Armen: unfreiwilligen Armen, denen das Schicksal schlecht mitgespielt hat, und Armen, die an ihrer Notlage selber schuld oder mitschuldig sind.

Im Mittelalter wurden Arme in der Tradition der Antike häufig sozial geächtet. Zugleich breitete sich mit der Christianisierung ein positive Armutsbild aus. Dahinter stand die christliche Armutsbewegung, die nach dem Vorbild von Christus einer freiwillig gelebten Armut nachging (Bettelorden, Konversschwestern). Armen kam auch eine gesellschaftliche Funktion zu. Als Empfängerinnen und Empfänger von Almosen sollten sie im Gegenzug für das Seelenheil der Spenderinnen und Spender beten. Als «arm» galt, wer weder über physische Stärke noch über soziale Macht verfügte. Dazu zählten alte Menschen, Kranke, Invalide, Witwen, Fremde, Pilger, Bettlerinnen und Bettler. Zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert stieg die Zahl der Armen an, bedingt durch Missernten, Teuerungen, Adelsfehden, Epidemien oder demographische Entwicklungen. Von Armut betroffen waren neu auch Lohnarbeiter, Taglöhner und das Gesinde, wobei Frauen die Mehrheit der Armen ausmachten.

Lange Zeit waren vor allem konfessionelle Hilfswerke für die Armen besorgt. Im 14. und 15. Jahrhundert zeichnete sich ein veränderter Umgang mit Armut ab, der sich durch eine erhöhte weltliche Kontrolle auszeichnete. Diese Entwicklung setzte sich mit der Reformation fort. Die weltlichen Obrigkeiten waren der Ansicht, dass nur sogenannte würdige Arme von finanzieller Unterstützung profitieren sollten. Diese standen im Gegensatz zu den «unwürdigen» Armen, denen unterstellt wurde, ihre Lage selbst verschuldet zu haben. Unter den Begriff der unwürdigen Armen wurden freiwillige Arme wie die Beginen, arbeitsfähige Verarmte, Fremde und Fahrende zusammengefasst. Ihnen wurde moralisierend vorgeworfen, freiwillig dem Müssiggang zu frönen und die echten Armen um ihr Almosen zu bringen. Mit repressiven Massnahmen wie Bettelverboten, Zwangsarbeit und Landesverweis gingen die Obrigkeiten vor allem gegen Bettlerinnen und Bettler, Fahrende und Ortsfremde vor.

Im 16. Jahrhundert wuchs die Bevölkerung in der Schweiz. Bedingt durch periodisch auftretende Missernten kam es in der Folge zu Hungersnöten und Teuerungen. 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung lebte zumindest vorübergehend in Armut. Auch Hausierer, Reisläufer, Spielleute und Wanderhandwerker führten häufig ein Leben am Existenzminimum und drohten in die Armut abzugleiten. Städtische Obrigkeiten engten den Kreis unterstützungswürdiger Personen auf bestimmte Gruppen ein. Der Zugang zur Armenfürsorge blieb Inhaberinnen und Inhabern des Bürgerrechts vorbehalten. Dessen Erwerb oder die Bewilligung für Heiraten wurde von einem bestimmten Vermögen abhängig gemacht. Verarmte Personen wurden dadurch in ihren Rechten beschnitten.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren bis zu einem Fünftel der Bevölkerung in der Schweiz verarmt. Zu den Betroffenen gehörten vor allem Bevölkerungsschichten, die von der Landwirtschaft abhängig waren. Die Industrialisierung, das Bevölkerungswachstum und einzelne Hungerkrisen verschärften die Armut teilweise. Auch im 19. Jahrhundert wurden «unwürdige» Arme wie Bettlerinnen und Bettler, Fahrende und Heimatlose weiter stigmatisiert und verfolgt. Nach 1850 verbesserte sich die Lage. Die Arbeitslosigkeit nahm durch neue Erwerbsmöglichkeiten im Eisenbahnbau und der Fabrikindustrie ab. Lohnarbeiterinnen und -arbeiter blieben jedoch oft Teil der armutsbetroffenen Unterschichten.  

Seit den 1840er Jahren erhielt Armut in der öffentlichen Wahrnehmung eine neue Bedeutung. Sie wurde zunehmend als Problem des Industriezeitalters und als Teil der «sozialen Frage» verstanden. Im Fokus standen die prekären Lebensbedingungen der Industriearbeiterschaft, einer neuen gesellschaftlichen Schicht. Die Politik versuchte, durch sozialpolitische Massnahmen die Auswirkungen von Armutsrisiken wie Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit zu mildern. In erster Linie profitierten ortsansässige Arme von diesen Neuerungen. Sie wurden längerfristig den Personen mit Bürgerrecht gleichgestellt. Randgruppen wie Heimatlose und Fahrende blieben weiterhin einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt. Auch Frauen waren unter der notleidenden Bevölkerung übervertreten. Die Stigmatisierung der Armen blieb gross, weshalb viele Arme sich erst spät oder gar nicht an Fürsorgeeinrichtungen um Unterstützung wandten. Zeitgenossinnen und -genossen sprachen von «verschämten Armen».

Das Wirtschaftswachstum liess die Zahl der Armen bis zum Ersten Weltkrieg weiter zurückgehen. Parallel dazu entwickelte sich eine neue Armut, die sich im Versteckten abspielte. Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter sowie in der Landwirtschaft tätige Personen lebten häufig am Rand des Existenzminimums. Sie blieben in den grossen Debatten um die «soziale Frage» oft unerwähnt.

Der Erste Weltkrieg traf die Schweiz weitgehend unvorbereitet und löste eine anhaltende Teuerung sowie Versorgungsengpässe aus. Bereits in den ersten Kriegsjahren stellten viele Unternehmen die Produktion ein. Es kam zu Lohnkürzungen und Lebensmittelteuerungen, von denen besonders die lohnabhängige Bevölkerung – Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellte – betroffen waren. Obwohl die Nettolöhne bis Kriegsende wieder stiegen, sanken die Reallöhne durch die Teuerung um 25–30 Prozent während die Lebenserhaltungskosten auf 130–150 Prozent anstiegen. Zu den Krisengewinnern gehörten Zwischenhändler und Spekulanten sowie Kapitaleigner aus der Industrie, aber auch die Bäuerinnen und Bauern. In den letzten Kriegsjahren, 1917 und 1918, herrschte eine verbreitete Lebensmittelknappheit. In der Folge waren breite Bevölkerungskreise das erste Mal in der Geschichte des Bundesstaates von Mangel, Unterernährung und Hunger betroffen. 1918 bezogen ein Sechstel bis ein Viertel der Bevölkerung staatliche Unterstützungsleistungen. Die wachsende soziale Ungleichheit entlud sich in zahlreichen Streiks der Arbeiterschaft. Sozialpolitische Massnahmen, die nach dem Landesstreik ergriffen wurden, führten nur zu einer kurzfristigen Entspannung. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erlebte die Schweiz in den Jahren 1921 und 1922 sowie von 1932 bis 1939 zwei grosse Wirtschaftskrisen. Sie führten zu einem Niedergang verschiedener Branchen, insbesondere der Textil-, der Uhren- und der Metallindustrie. Die Zahl der Arbeitslosen stieg bis Mitte der 1930er-Jahre stark an. Erst im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit erholte sich die Wirtschaft wieder.

In der Nachkriegszeit verbesserte sich der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten durch die Hochkonjunktur der 1950er- und 1960er-Jahre. Auch die Arbeiterschicht profitierte von den Wohlstandsgewinnen, wobei die Löhne der unteren und mittleren Einkommensgruppen im Verhältnis zum Wirtschaftswachstum nur langsam anstiegen. Obwohl Arme nahezu aus dem öffentlichen Raum verschwanden, entstanden neue Gruppen von Armutsbetroffenen. Die Entwicklung zur versteckten Armut setzte sich fort. Personen, die von Armut betroffen waren, wurden oft als Randgruppen bezeichnet. Dazu zählten Teile der Bergbevölkerung, Ausländerinnen und Ausländer sowie Randständige in den Städten (z. B. Suchtkranke). Alter und Krankheit blieben weiterhin grosse Armutsrisiken. Die AHV war in den 1950er und 1960er Jahren noch nicht existenzsichernd und die IV wurde erst 1960 eingeführt. Unverheiratete, geschiedene oder verwitwete Frauen waren ebenfalls überdurchschnittlich von Armut betroffen. Erwerbstätige Frauen arbeiteten häufig in schlecht bezahlten Frauenberufen. Das niedrige Einkommen wirkte sich wiederum auf die AHV-Beiträge und indirekt auf die AHV-Renten der Frauen aus.

Bis heute sind vor allem sozial und ökonomisch schlechter gestellte Personengruppen von Armut betroffen. Dazu zählen alleinerziehende Frauen, kinderreiche Familien, Rentnerinnen und Rentner sowie Langzeitarbeitslose. Auch die anhaltend hohen Lebenskosten tragen zu neueren Formen der Armut bei. Seit den 1990er Jahren hat sich im Zusammenhang mit Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit arm sind, der Begriff der «Working poor» etabliert. Ende der 1990er Jahre lag die Zahl der «Working poor» in der Schweiz bei rund 250'000 Personen. Zu dieser Gruppe gehörten vorwiegend niedrig qualifizierte Personen, Einelternhaushalte und Familien mit ausländischer Staatsangehörigkeit und mehr als drei Kindern. Gemäss Erhebungen des Bundesamts für Statistik galten von 2007 bis 2012 zwischen 14,2 und 15,6 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet. 2012 waren 590'000 Personen von Armut betroffen, weitere 1,19 Millionen Menschen lebten in der Schweiz am Rand des Existenzminimums.

 

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Bundesamt für Statistik BFS (2014), Armut in der Schweiz 2007 bis 2012, Neuchâtel. Online: https://www.bfs.admin.ch/bfsstatic/dam/assets/349392/master, Stand: 11.03.2021; Crettaz Eric (2018), Working Poor in der Schweiz: Ausmass und Mechanismen, Social Change in Switzerland, https://www.socialchangeswitzerland.ch/?p=1514, Stand: 29.01.2021; Epple Ruedi, Schär Eva (2010), Stifter, Städte, Staaten. Zur Geschichte der Armut, Selbsthilfe und Unterstützung in der Schweiz 1200-1900, Zürich; HLS: Armut, Erster Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise; O. A. (1864), Verschämte Arme, in: Pierer’s Universal-Lexikon, Band 18, 511-512. Online: http://www.zeno.org/Pierer-1857/A/Versch%C3%A4mte+Arme, Stand: 29.01.2021.

(06/2021)