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Selbstständige
Selbständige haben im schweizerischen Sozialstaat einen Sonderstatus. Die meisten Sozialversicherungen rücken den Schutz der Arbeiterschaft in den Vordergrund. Bis heute sind Selbständigerwerbende oft nur teilweise oder mangelhaft abgesichert.
Der Begriff der Selbständigkeit wird unterschiedlich definiert. Gemeinhin gelten in der Schweiz jene Erwerbstätigen als Selbständige oder Selbständigerwerbende, die auf eigene Rechnung arbeiten oder in ihrem eigenen Betrieb angestellt sind. Dazu zählen am Anfang des 21. Jahrhunderts viele Kleinunternehmerinnen und -unternehmer, etwa Künstler, Coiffeusen oder freie Journalisten, sowie freiberuflich tätige Personen wie Ärztinnen, Anwälte oder Architektinnen. Sozialversicherungen wie die AHV verwenden einen eingeschränkten Begriff der Selbständigkeit und zählen darunter nur jene Erwerbstätigen, die auf eigene Rechnung arbeiten. Wer in seiner eigenen Aktiengesellschaft angestellt ist, gilt demnach nicht als selbständig erwerbend. Viele Selbständigerwerbende sind zugleich selbständig und angestellt tätig.
Die frühen Sozialversicherungen, die im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland, Frankreich oder der Schweiz gegründet wurden, boten in erster Linie einen Schutz vor den Armutsrisiken der Industriegesellschaft. Im Vordergrund stand die Fabrikarbeiterschaft, während Selbständigerwerbende und Beschäftigte in der Landwirtschaft in den ersten Sozialwerken, etwa der staatlichen Unfallsversicherung oder der Arbeitslosenversicherung, ausgeschlossen blieben. Rund die Hälfte der Selbständigerwerbenden waren Bauern und Bäuerinnen. Um 1900 war rund ein Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung in selbständiger Stellung tätig. Mit dem Rückgang der bäuerlich tätigen Bevölkerung sank auch der Anteil Selbständiger und beträgt heute noch rund einen Achtel aller Erwerbstätigen.
Ein Problem in der sozialen Sicherung der Selbständigen bildete das Finanzierungsmodell der Sozialversicherungen, das auf lohnabhängigen Beitragszahlungen beruhte. Dieser Finanzierungsmodus kam für Selbständige, die in der Regel keinen Lohn bezogen, sondern vom Gewinn ihrer Arbeit lebten, nicht in Frage. Dies betraf insbesondere die Mehrheit der Bauern und Bäuerinnen, die in den Sozialversicherungsprojekten des 19. Jahrhunderts keine zentrale Rolle spielten. Ebenfalls nicht im Fokus standen die «freien Berufe» – Ärzte oder Anwälte –, die im 19. Jahrhundert als klassische Selbständige galten. Freie Berufe waren akademische, bürgerliche Professionen mit hohem Prestige und meist gutem Einkommen. Selbständigkeit als prekäre und schutzwürdige Existenz zu sehen, war den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts deshalb fremd. Erst mit dem Aufkommen universalistischer Sozialversicherungen, die die gesamte erwachsene Bevölkerung umfassten, wurden die Selbständigen kollektiv in einen Teilbereich des Sozialstaats aufgenommen. In der Schweiz geschah dies 1948 mit der Gründung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV).
Obwohl auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der fehlende sozialstaatliche Schutz von Selbständigen regelmässig bemängelt wurde, ist die Problematik bis heute nur teilweise gelöst. Eine Hürde war, dass die Selbständigen eine sehr uneinheitliche Gruppe waren und deshalb keine starke Lobby besassen. Einzelne Selbständigengruppen, etwa die Ärzteschaft, lehnten den Ausbau des Sozialstaats sogar mehrheitlich ab und bevorzugten ihre eigenen, berufsständischen Vorsorgeeinrichtungen. Zudem gehörte zur Selbständigkeit ein gewisses unternehmerisches Risiko. Allfällige Unterstützungsleistungen für Selbständige sollten nicht zweckentfremdet werden zur Absicherung dieses Unternehmensrisikos, denn sonst würde im Konkursfall letztlich die Allgemeinheit für Privatverluste aufkommen.
Der Schutz von Selbständigen wurde bereits beim ersten grossen Sozialstaatsgesetz, dem 1912 angenommenen Kranken- und Unfallversicherungsgesetz (KUVG), diskutiert. In den Vorberatungen waren sich Bundesrat und Parlament einig, Selbständige zu jenen Bevölkerungsgruppen zu zählen, die dank ihres Einkommens keine besondere Unterstützung brauchten und sich selber helfen konnten. Den wenigen einkommensschwachen Selbständigen sei am besten mit einem freiwilligen Zugang zur Unfallversicherung geholfen. Dies wurde schliesslich im KUVG so verankert.
Die 1930er Jahre standen unter dem Vorzeichen der Weltwirtschaftskrise, die auch die Selbständigen traf. Die Behörden handelten in dieser Krise zögerlich. Ein erstes Paket zur Krisenhilfe für Arbeitslose (1931) schloss wegen finanzieller Bedenken die Inhaber kleiner Geschäfte (Kleinmeister) zunächst von der Unterstützung aus. Erst Ende 1932 kam eine Lösung zustande, die sich auf die besonders betroffenen Kleinbetriebe der Uhrenindustrie beschränkte. Darüber hinaus gab es keine Hilfen für Selbständigerwerbende.
Nach dem Zweiten Weltkrieg diskutierten Regierung und Parlament mehrfach die Aufnahme der Selbständigerwerbenden in verschiedene Sozialversicherungszweige. Diese Anläufe scheiterten jedoch regelmässig. Selbständige blieben unberücksichtigt bei der Revision der Arbeitslosenversicherung 1950, bei den Debatten um die Reform der Krankenversicherung 1973, zwischen 1975 und 1982 bei der Ausarbeitung des Gesetzes für die berufliche Altersvorsorge, schliesslich zwischen 1976 und 1984 und erneut 2008 bei der Revision der Unfallversicherung. Die Begründungen waren jeweils ähnlich. Die betroffenen Gruppen wären zu klein für Pauschallösungen; man müsse die Berufsverbände stärker in die Pflicht nehmen. In der Arbeitslosenversicherung wurde kritisiert, dass sich bei Selbständigen der Unterschied zwischen selbst verschuldeter und unverschuldeter Arbeitslosigkeit schwer feststellen liesse. Als Minimalkonsens bot sich einzig das freiwillige Versicherungsmodell an, das seit 1912 in der Unfallversicherung galt und 1982 zusätzlich in der beruflichen Altersvorsorge eingeführt wurde.
Das Modell der freiwilligen Versicherung passte allerdings immer weniger zur typischen Erwerbssituation vieler Selbständiger. Seit den 1980er Jahren haben sich prekäre Arbeitsverhältnisse zunehmend ausgebreitet. Dazu gehören beispielsweise Teilzeitarbeit mit geringen Pensen oder niedrigen Einkommen, Nacht- und Wochenendarbeit oder Arbeit auf Abruf. Viele davon betreffen Selbständigerwerbende. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Selbständigerwerbende in prekären Arbeitsverhältnissen freiwillige Versicherungsangebote oft nicht leisten können.
Die COVID-19-Pandemie, die von 2020 bis 2022 die Schweiz erfasste, bildete einen Wendepunkt im sozialstaatlichen Schutz der Selbständigerwerbenden. Viele Selbständige verloren durch den Lockdown, insbesondere durch die Geschäftsschliessungen und das Veranstaltungsverbot, ihre Existenzgrundlage. Grosse Teile der Unterstützungsmassnahmen halfen den Selbständigen wenig. Die Kurzarbeitsentschädigungen der Arbeitslosenversicherung waren auf Arbeitnehmenden in unselbständiger Tätigkeit beschränkt und die Überbrückungskredite entlasteten einzig Unternehmen. Das Problem war den Behörden jedoch bewusst. Bundesrat und Parlament stellten deshalb im März 2020 mit den Corona-Erwerbsausfallentschädigungen ein Hilfspaket zusammen, das spezifisch auf die Bedürfnisse von Selbständigen zugeschnitten war. Selbständigerwerbende, die wegen den Pandemie-Massnahmen einen Erwerbsausfall erlitten, erhielten Anspruch auf eine Entschädigung im Umfang von 80 Prozent des vormaligen Einkommens. Auch Arbeitnehmende, die wegen zusätzlicher Kinderbetreuung oder durch Quarantänemassnahmen einen Einkommensverlust erlitten, waren antragsberechtigt. Insgesamt bezahlte der Bund zwischen März 2020 und Oktober 2021 Erwerbsausfallentschädigungen von 3,5 Milliarden Franken, davon gingen mehr als zwei Drittel (2,6 Mia.) an Selbständigerwerbende. Neben Kulturschaffenden profitierten insbesondere die Taxibranche, nicht-ärztliche Medizinalberufe (z.B. Physiotherapie), Unternehmensberatungen sowie Betreiberinnen und Betreiber von Restaurants oder Coiffeursalons. Insgesamt erhielten über 430'000 Personen, die Mehrheit davon Selbständige, eine solche Unterstützung. Die Erwerbsausfallentschädigungen bildeten innerhalb der COVID-19-Ausgaben des Bundes einen wichtigen, allerdings vergleichsweise kleinen Posten. Alleine die Kurzarbeitsentschädigungen umfassten für 2020 und 2021 über 15 Milliarden Franken.
Die Unterstützung von Selbständigen während der COVID-19-Pandemie erwies sich im Rückblick als vorübergehende Massnahme. Eine bessere Absicherung von Selbständigerwerbenden im schweizerischen Sozialstaat bleibt sozialpolitisch weiterhin aktuell.
Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Arikelserie «Soziale Absicherung von Selbständigen» (2023), in Soziale Sicherheit (CHSS); Felix Bühlmann (2020), Arbeitsverhältnisse (atypische), in Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik, Ludwig Gärtner (2023), Die Diskussion um die soziale Absicherung der Selbstständigerwerbenden, in Soziale Sicherheit (CHSS), Kurt Pärli (2021), Die Einbindung Selbstständiger in die Sozialversicherung der Schweiz.Soziale Sicherung Selbstständiger – Interdisziplinäre und internationale Betrachtungen Workshop am 24. – 25. Juni 2021, Hamburg; Eidgenössische Finanzkontrolle (ed.) (2022), Evaluation des Corona-Erwerbsersatzes für Selbständigerwerbende, Bundesamt für Sozialversicherungen, Bern; Ecoplan, Michael Mattmann, Ursula Walther, Julian Frank, Michael Marti (2017), Die Entwicklung atypisch-prekärer Arbeitsverhältnisse in der Schweiz. Nachfolgestudie zu den Studien von 2003 und 2010, unter Berücksichtigung neuer Arbeitsformen, SECO Publikationen Arbeitsmarktpolitik No 48 (11. 2017), Bern.
(01/2024)