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Erwerbsersatzordnung (EO)

Die Erwerbsersatzordnung (EO) für Dienstleistende (seit 1940) und bei Mutterschaft (seit 2004) kompensiert einen Teil des Erwerbsausfalls während des Militärdienstes und nach der Geburt eines Kindes. 1947 diente die EO auch als Modell für die Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung.

Die Erwerbsersatzordnung (EO) hat ihre ursprünglichen Wurzeln im Erwerbsausfall der im Ersten Weltkrieg mobilisierten Soldaten, die in jener Zeit ihre Familien finanziell nicht unterstützen konnten, was zu grossen sozialen Spannungen führte und einige Forderungen des Generalstreiks von 1918 begründete. In der Zwischenkriegszeit schaffte es die Frage der Lohnausfallentschädigung während des Militärdienstes oder der Wiederholungskurse allerdings noch nicht auf die politische Agenda. Trotz des Generalstreiks kamen die Bemühungen um eine nationale Lösung dieser Frage wegen der unsicheren Konjunktur und des Widerstands der Arbeitgeberschaft gegen die Finanzierung solcher Leistungen nicht voran. Die grossen Unternehmen und der öffentliche Dienst führten zwar nach und nach eine Lohnersatzordnung für dienstleistende Soldaten ein, diese Lösung kam jedoch lediglich einer kleinen Minderheit von betroffenen Männern zugute. Die Kosten für den Armeedienst waren zwischen den Arbeitgebern ungleich verteilt. Diese Ungleichheit war bei der Stellensuche auch ein Nachteil für die jungen Männer, die am meisten Diensttage leisteten.

Die EO, die Mobilisierung der Kriegswirtschaft und die AHV

1938 schaffte der Bund die Strukturen für ein gutes Funktionieren der Wirtschaft in Kriegszeiten. Damit stand auch die Frage der Lohnersatzordnung für Soldaten bei einer Generalmobilmachung wieder zur Debatte. Das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit BIGA entwarf ein System öffentlicher Kassen unter der Schirmherrschaft des Bundes; diese sollten die Leistungen an die Mobilisierten verteilen. Die Gewerkschaften schlugen ihrerseits vor, die Unterstützung der Soldaten über ihre Arbeitslosenkassen zu organisieren. Bei Ausbruch des Krieges im Sommer 1939 war jedoch noch keines dieser Projekte umgesetzt.

Um staatliche Interventionen oder gewerkschaftliche Vereinnahmungen dieses neuen Sozialprogramms zu verhindern, nutzte der Zentralverband der schweizerischen Arbeitgeberorganisationen ZSAO bei Kriegsbeginn die Gelegenheit zur Gründung eigener Ausgleichskassen. Diese Struktur wurde alsbald durch öffentliche Kassen (des Bundes und der Kantone) ergänzt. Sie deckten die Leistungen für diejenigen Männer ab, die keiner Arbeitgeberkasse angehörten. In diese Kassen flossen nicht nur die Lohnbeiträge der Militärdienst leistenden Männer, sondern auch der berufstätigen Frauen und der in der Schweiz arbeitenden Ausländerinnen und Ausländer sowie die Subventionsbeiträge des Bundes. Die Kassen kamen seit Frühling 1940 für Taggelder zwischen 80 Prozent (für nicht qualifizierte Arbeitnehmende und 50 Prozent (für Angestellte) des Lohns während der Dienstzeit auf. Für Familienväter gab es Zusatzleistungen. Die EO (der sog. Werhmannsschutz) war äusserst populär. Sie unterstützte die Familien und festigte gleichzeitig die «Betriebsgemeinschaft», die «Volksgemeinschaft» und die Rollenteilung zwischen Männern und Frauen. Die Beiträge für die Soldaten erleichterten auch den Einsatz der Arbeitskräfte vor, während und nach den Zeiten der General- und Teilmobilmachungen zwischen 1939 und 1945.

Ab den mittleren Kriegsjahren wurde die Debatte über die soziale Sicherheit der Zukunft dank dem Erfolg der EO und der Effizienz der Finanzierung durch Lohnbeiträge neu angeregt, da mit diesem System nicht nur die Auszahlung von Leistungen, sondern auch die Bildung grosser Reserven möglich geworden war. So diente die EO letztlich auch als Modell für die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Nach Kriegsende 1945 fungierten die Ausgleichskassen und die EO-Beiträge als Grundlagen für die Einführung der AHV. Dank der Übertragung eines Teils der Reserven der EO auf den künftigen AHV-Ausgleichsfonds konnten neue Steuern vermieden werden. Symbolisch betrachtet wurde somit die Solidarität zwischen der Bevölkerung und den Milizsoldaten auf die älteren Menschen übertragen. Die patriarchale Struktur der EO widerspiegelte sich auch wieder in der Ehepaarrente: Diese wurde den Männern ausbezahlt.

Die EO: Vom Kalten Krieg zum Erwerbsersatz bei Mutterschaft

Zwischen 1947 und 1950 konnte die EO übergangsweise durch die in den Kriegsjahren gebildeten Reserven finanziert werden; die Nachhaltigkeit des Programms blieb allerdings unsicher. 1952, mitten in der Zeit des Koreakriegs, erhielt die EO eine neue Verfassungsgrundlage, und 1958 wurde die Finanzierung mit der Einführung spezifischer Lohnbeiträge (0.4% des Lohnes, 0.6% seit 1975) definitiv geregelt. Die EO repräsentierte bis zum Ende des Kalten Krieges die soziale Seite der nationalen Verteidigungspolitik des Bundes und garantierte die für das Funktionieren der Milizarmee unerlässlichen Sozialleistungen. Mit dem Ende des Kalten Krieges ging der Bestand der Schweizer Armee von über 800 000 (Ende der 1980er-Jahre) auf unter 200 000 Soldaten (2004) zurück, und die EO-Beiträge wurden nach unten angepasst.

Diese tiefgreifende Restrukturierung führte zur Idee einer Erweiterung der EO auf die Mutterschaft. Dieser Vorschlag wurde nach dem Scheitern der Mutterschaftsinitiative 1984 zum ersten Mal vorgebracht und schliesslich 2004 umgesetzt. Die Annahme dieser Erwerbsausfallentschädigung bei Mutterschaft führt zu einer besseren Risikolastenverteilung, da die Arbeitgeber die Löhne der Frauen nach der Niederkunft nicht mehr selber bezahlen müssen. 2012 leistete die EO Beiträge an Militärdienstleistende (145 000 Begünstigte), Zivil- oder Schutzdienstleistende (70 000), an Rekrutierende oder Sportleiter (45 000) sowie an rund 68 000 Mütter. Die Mutterschaftsbeiträge decken 80 Prozent des Lohnes während der 14 Wochen des Mutterschaftsurlaubs (höchstens 196 Franken/Tag) und bilden rund die Hälfte der Ausgaben der EO (d.h. 713 Millionen Franken von 1,52 Milliarden Franken im Jahr 2012). Nachdem sie während über 60 Jahren EO-Beiträge geleistet und die Leistungen für die männliche Bevölkerung subventioniert haben, haben die Frauen nun auch Anspruch auf eine Erwerbsausfallentschädigung, sofern sie mindestens neun Monate AHV-Beiträge einbezahlt und während mindestens fünf Monaten einer Beschäftigung nachgegangen sind. Nicht erwerbstätige Frauen erhalten diese Leistungen nach wie vor nicht.

Von der Landesverteidigung zum Mutterschaftsschutz führt mit der EO ein interessanter roter Faden durch die historische Entwicklung der sozialen Sicherheit in der Schweiz.

> Die Erwerbsausfall- und Mutterschaftsentschädigung in Zahlen

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Leimgruber Matthieu (2010), Protecting soldiers, not mothers: soldiers’ income compensation in Switzerland during World War II, Social Politics, 17: 1, 53–79; Leimgruber Matthieu (2009), Schutz für Soldaten, nicht für Mütter. Lohnausfallentschädigung für Dienstleitende und Sozialversicherungen in der Schweiz, in M. Leimgruber, M. Lengwiler (Hg.), Umbruch an der ‚inneren Front‘. Krieg und Sozialpolitik in der Schweiz 1938–1948, 75–99, Zürich.; Stämpfli Regula (2002), Von der Grenzbesetzung zum Aktivdienst. Geschlechterpolitische Lösungsmuster in der schweizerischen Sozialpolitik (1914–1945), in H. J. Gilomen, S. Guex, B. Studer, Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung, Zürich. HLS / DHS / DSS: Erwerbsersatzordnung EO.

(12/2015)