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Direkte Demokratie und Sozialstaat

Mit Initiativen und Referenden können Schweizer Bürgerinnen und Bürger unmittelbar ins politische Geschehen eingreifen und eine Volksabstimmung verlangen. Diese direktdemokratischen Instrumente haben die Entstehung und Ausgestaltung des schweizerischen Sozialstaats stark geprägt.

Die direkte Demokratie hat sich in der Schweiz unterschiedlich auf die Sozialstaatsentwicklung ausgewirkt. Erstens verzögerten fakultative Referenden, die mehrheitlich von rechts-konservativen Parteien und Wirtschaftsverbänden ergriffen wurden, die Einführung sozialer Einrichtungen. Der umgekehrte Effekt, eine beschleunigende Wirkung durch Initiativen von Gewerkschaften und linken Parteien, fiel weniger stark ins Gewicht. Zweitens hat die Referendumsmöglichkeit eine Verbandsdemokratie entstehen lassen, in der Interessengruppen über das Vernehmlassungsverfahren die politische Entscheidungsfindung frühzeitig beeinflussen können. Dieser Mechanismus hat oft uneinheitliche oder liberale Sozialstaatsgesetze entstehen lassen und privaten Wohlfahrtsorganisationen ein vergleichsweise grosses Gewicht eingeräumt. Drittens hatten die direktdemokratischen Instrumente den Effekt, dass die Staatstätigkeit und die steuerliche Finanzierung der Sozialwerke auf einem im internationalen Vergleich tiefen Niveau blieben.

Die Auswirkungen der direkten Demokratie manifestieren sich bei sämtlichen Sozialversicherungszweigen. Zwischen 1848 und 1998 äusserten sich die Stimmbürger in insgesamt 64 Volksabstimmungen einschliesslich 27 Referenden zu sozialpolitischen Vorlagen, die einen Anteil von 13 Prozent aller Volksabstimmungen ausmachten. Von den 24 Verfassungsinitiativen zu sozialpolitischen Themen konnte nur eine vor dem Volk bestehen. Seit den 1990er-Jahren und dem Ende des Kalten Krieges haben Sozialstaatsfragen an Bedeutung gewonnen, während andere Themen wie zum Beispiel die Finanzpolitik an Bedeutung einbüssten. Ihr Anteil an der Gesamtheit der Volksabstimmungen wuchs auf 30 Prozent für die Zeit von 1990-2014.  

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Einführung der Kranken- und Unfallversicherung, der Altersrenten sowie der Arbeitslosenversicherung durch Referenden deutlich verzögert. Nachdem die Lex Forrer 1900 am Referendum gescheitert war, machte die zweite Vorlage Abstriche auf Seiten der Krankenversicherung und reüssierte erst 1912 in einer neuerdings erzwungenen Volksabstimmung. Auch die erste Vorlage einer Alters- und Hinterlassenenversicherung (Lex Schulthess) scheiterte 1931 am Referendum katholischer und konservativer Kräfte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fand ein Ausbau des Sozialstaats unter veränderten Bedingungen statt. Die politischen Aushandlungsprozesse waren durch die Sozialpartnerschaft, das obligatorische Vernehmlassungsverfahren und die Anwendung der Zauberformel in der Regierung gefestigt worden. Zudem herrschte eine langanhaltende Phase wirtschaftlicher Prosperität. Als Folge davon wurden weder die AHV, die Invalidenversicherung, die obligatorische berufliche Vorsorge noch die Arbeitslosenversicherung vom Volk mittels Referenden verhindert. Mehrheitlich von linken Parteien ergriffene Volksinitiativen konnten die Sozialgesetzgebung beeinflussen, obwohl sie entweder zurückgezogen oder an der Urne verworfen wurden. Im Jahr 1955 beispielsweise reichten die Partei der Arbeit und die Sozialdemokratische Partei kurz hintereinander Initiativen zur Einführung einer Invalidenversicherungsversicherung ein, die den Bundesrat veranlassten, einen indirekten Gegenvorschlag auszuarbeiten. Als Folge trat die Invalidenversicherung bereits um 1960 in Kraft. Volksentscheide verhinderten hingen einen Ausbau der Krankenversicherung in den Jahren 1974 (Initiative und Gegenvorschlag) und 1987.

Ab den 1990er-Jahren bis in die 2020er Jahre bestanden Sozialversicherungsvorlagen nur dann vor dem Volk, wenn sie Leistungsverbesserungen mit Kosteneindämmungsmassnahmen verbanden, so geschehen bei der Krankenversicherungsrevision von 1994 und den Revisionen der Altersvorsorge und der Arbeitslosenversicherung von 1995. Nur teilweise in dieses Schema passt die Mutterschaftsversicherung, die 1999 zuerst durch ein Referendum gestoppt wurde, im Jahr 2004 aber vor dem Volk bestand. Vorlagen, die sich auf einen Leistungsabbau beschränkten, wurden zumeist durch Referenden von linken und gewerkschaftlichen Organisationen verhindert, so zum Beispiel die Arbeitslosenversicherungsreform von 1997, die AHV-Revision von 2004 und die Vorlage zur berufliche Vorsorge von 2010.

Die Finanzierungsfrage ist auch bei den Vorlagen zur Revision der Altersvorsorge jüngeren Datums ein grosser Streitpunkt. Die verschiedenen Reformversuche der AHV sahen eine Zusatzfinanzierung über die Mehrwertsteuer und die Anhebung des Pensionsalters der Frauen vor. Während die Vorlage der AHV 2020 im Jahr 2017 noch vom Stimmvolk abgelehnt wurde, konnte mit der AHV-21 die grosse Reformblockade der staatlichen Altersvorsorge überwunden werden – trotz der Kritik von linken Organisationen an der Finanzierung über die Erhöhung des Pensionsalters von Frauen, das als Referenzalter dem der Männer angeglichen und auch auf 65 Jahre festgelegt wurde. Mit der Annahme der Initiative für eine 13. AHV-Rente wurde 2024 erstmals einer Volksinitiative zugestimmt, die auf den Ausbau des Sozialstaates zielt. Die Finanzierungsfrage wird aktuell (Stand 2024) im Parlament behandelt.

Literatur / Bibliographie / Bibliografia / References: Obinger Herbert et al. (2005), Switzerland. The marriage of direct democracy and federalism, in H. Obinger et al. (ed.), Federalism and the welfare state. New World and European experiences, 263–306, New York; Wagschal Uwe, Obinger Herbert (1999), Der Einfluss der Direktdemokratie auf die Sozialpolitik, ZeS-Arbeitspapier 1/99, Bremen; Tabin Jean-Pierre (2011), Comprendre la sécurite sociale en Suisse, in J.-M. Bonvin et al. (ed.), Manuel de politique sociale, 41-69, Lausanne.

(07/2024)